© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

70 Jahre Grundgesetz
Verbesserungswürdig
Dirk Pelster

Wenn sich in diesen Tagen das Datum des Inkrafttretens des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 zum siebzigsten Mal jährt, dann werden allerorten die Lobpreisungen deutscher Politiker auf dessen Text und auf die Weitsicht seiner Verfasser zu vernehmen sein. Aber auch im politischen und medialen Tagesgeschäft nimmt der beschwörende Rekurs auf die Inhalte des einst als Provisorium für eine Übergangszeit zur Rechtskraft gelangten Gesetzeswerkes einen hohen Stellenwert ein. Das große Ansehen, welches das Grundgesetz genießt, wird dabei weder seiner staatsrechtlichen Qualität noch dem Selbstanspruch seiner Verfasser gerecht.

Blickt man zurück auf den damaligen Prozeß der Rechtsschöpfung durch den hiermit beauftragten Parlamentarischen Rat, so muß man ein erhebliches Manko an demokratischer Legitimität des schließlich verabschiedeten Gesetzes feststellen. Zunächst wurde über sein Zustandekommen nie im Rahmen eines Plebiszites der damals nur westdeutschen Bevölkerung befunden. Hinzu kommt, daß der gesamte Prozeß von den Alliierten angestoßen, im Wege eines durch Parteienlizenzierung und Persilscheine gelenkten demokratischen Verfahrens beeinflußt sowie durch die Genehmigung des abschließenden Ergebnisses auch beendet wurde.

Ein gravierendes Legitimitätsdefizit stellt dabei insbesondere die fehlende inhaltliche Gestaltungsfreiheit bei der Schaffung des Grundgesetzes dar. Mit den sogenannten Frankfurter Dokumenten gaben die Alliierten den westdeutschen Ministerpräsidenten 1948 einen Rahmen vor, innerhalb dessen die Verfassung eines Teilstaates auszuarbeiten war. Der Anlaß zur Ausfertigung eines solchen Papiers war somit fremdgesetzlich gesetzt, und seine wesentlichen Inhalte waren von fremden Mächten vorherbestimmt. Folglich ermangelt es dem Grundgesetz an dem für die Schöpfung einer demokratischen Verfassung elementaren Merkmal des Zugrundeliegens staatlicher Souveränität.

Die nicht unbeachtlichen Mängel werden im öffentlichen Diskurs gerne mit dem Verweis auf den im Grundgesetz enthaltenen besonderen Grundrechtsschutz überspielt. Naturgemäß begegnet die Betonung von elementaren Rechten dabei nur wenig Einwänden, denn eine hierzu geäußerte Kritik birgt stets die Gefahr der moralischen Selbstkompromittierung. Gleichwohl erscheint eine nähere Analyse der grundgesetzlichen Vorgaben unumgänglich, will man zu einer angemessenen Bewertung der heute vorherrschenden Grundrechtseschatologie kommen.

Die Väter des Grundgesetzes haben bei ihrer Arbeit an einen bereits entwickelten Kanon fundamentaler Rechte aus der deutschen und europäischen Verfassungstradition angeknüpft. Inhaltlich unterscheidet sich dieser Grundrechtskatalog dementsprechend nicht nennenswert von dem der Weimarer Reichsverfassung (WRV), aber letztlich auch nicht von dem der Verfassung der etwas später gegründeten DDR. Das kennzeichnende Merkmal des Grundrechtsschutzes in der Bundesrepublik ist, daß diese Rechte über den eigenen Verfahrenszweig der Verfassungsbeschwerde unmittelbar – wenn auch erst nach Erschöpfung des sonstigen Rechtsweges – eingeklagt werden können. Problematisch ist dabei, daß das Grundgesetz keinen eigentlichen Ausgleich von individuellen und kollektiven Rechten kennt, sondern die Grundrechte des einzelnen im wesentlichen nur mit den Grundrechten anderer Einzelpersonen in Übereinstimmung zu bringen sucht.

Die Sorge, die junge Bundesrepublik könne zum Opfer extremistischer Parteien werden, ist aus der historischen Situation nachvollziehbar. Dies hat indes blind gemacht für Risiken, die für eine Demokratie von den Verfassungsorganen ausgehen können.

Als fatal hat sich zudem die sukzessive Abwendung vom klassischen Grundrechtsverständnis erwiesen. Sollten Grundrechte ursprünglich den Bürger vor einem übergriffigen Staat schützen, so werden sie heute als objektive Werteordnung aufgefaßt, die auch Privatpersonen untereinander binden. Theoretisch ließe sich mit der hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Auslegungssystematik künftig sogar die Wahl des eigenen Ehepartners einschränken, etwa wenn ein aufgrund seiner Religionszugehörigkeit oder seines Geschlechts verschmähter Dritter gegen die Durchführung der Trauung klagt. Dem Staat ist es somit heute möglich, sich selbst auf die Durchsetzung von Grundrechten zu berufen, wenn er die Freiheiten seiner Bürger einschränkt.

Wenig Beachtung bei der offiziösen Bewertung des Grundgesetzes findet dessen staatsorganisationsrechtlicher Teil. Bestimmt wurden die Überlegungen von dem Anliegen, ein Wiedererstehen totalitärer politischer Bewegungen zu verhindern. Auffällig ist die starke Aufwertung des Parlaments und die Beschränkung des Staatsoberhauptes auf rein repräsentative Aufgaben. Ebenso enthält das Grundgesetz so gut wie keine direktdemokratischen Mitbestimmungselemente. Vorgeblich sollten damit die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen werden, doch tatsächlich fußen die so gezogenen Konsequenzen auf einem historischen Irrtum.

Als der spätere Bundespräsident Theodor Heuss mit seinem berühmt gewordenen „Cave canem“ im Parlamentarischen Rat vor einer Einführung von Plebisziten warnte, verkannte er, daß es keineswegs Volksabstimmungen waren, die Adolf Hitler den Weg zur uneingeschränkten Macht gebahnt hatten, sondern es handelte sich vielmehr um ein Versagen des vom Grundgesetz in seiner Bedeutung später erheblich aufgewerteten Parlaments. Auch Theodor Heuss selbst hatte 1933 als Abgeordneter des Reichstages für das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten votiert.

Ein ähnlicher Fehlschluß lag der Beschneidung der Kompetenzen des Bundespräsidenten zugrunde, der mit der Tatsache begründet wurde, daß Hitler per Notverordnung durch Reichspräsident Paul von Hindenburg und ohne eigene parlamentarische Mehrheit zum Kanzler ernannt wurde. Doch würde man die Geltung des Grundgesetzes in dieser besonderen historischen Situation nachträglich unterstellen, so hätte diese die Einsetzung Hitlers keineswegs verhindert. Er hätte lediglich zunächst zweimalig eine Mehrheit im Parlament verfehlen müssen, bevor ein Bundespräsident Hindenburg ihn zum Kanzler hätte ernennen können.

Die Befürchtung, die junge Bundesrepublik könne – ohne das Einweben von entsprechenden Schutzmechanismen in das Grundgesetz – zum Opfer sich neu formierender kommunistischer oder nationalsozialistischer Parteien werden, ist aus der historischen Situation durchaus nachzuvollziehen. Die Sorge vor einer Zerschlagung des sich etablierenden Parteiensystems durch äußere Kräfte hat die Angehörigen des Parlamentarischen Rates zugleich aber weitgehend blind gegenüber solchen Risiken gemacht, die für eine Demokratie von den Verfassungsorganen selbst ausgehen können. Das damalige Vorstellungsbild einer Gefahr ist dabei noch heute prägend und im Bewußtsein der Vertreter des vorherrschenden Politikbetriebes tief verankert. Nur so kann beispielsweise erklärt werden, daß 2017 von Regierung und Parlament ein Gesetz zur Zensur sozialer Netzwerke verabschiedet und dies ausgerechnet mit dem Schutz von Meinungsfreiheit und Demokratie begründet wurde. Das Vorliegen einer Gefahr für ein freiheitliches Gemeinwesen wird nach wie vor nicht primär danach beurteilt, was jemand tut, sondern vor allem danach, wer es tut. Während Heiko Maas als Justizminister gleich mehrfach seine Axt an elementare Grundrechte angelegt hat, gilt er in der Öffentlichkeit per se als guter Demokrat und fühlt sich offensichtlich auch selbst so. Auf der anderen Seite gelangt man als Vertreter einer neuen oder parlamentarisch nicht etablierten politischen Kraft in keinem anderen europäischen Staat so schnell unter den Verdacht, ein „Verfassungsfeind“ zu sein wie eben in der Bundesrepublik.

Nach wie vor ist die Staatsorganisation der Bundesrepublik geprägt vom Prinzip der Verantwortungsdiffusion. Viele Köche rühren den Brei an, der den Bürgern schließlich serviert wird. Der schlechte Kompromiß wird zum vorherrschenden Politikrezept.

Die vielbeschworenen „Lehren aus Weimar“ erweisen sich dabei in ihrer Begründetheit nicht nur als fragwürdig, sondern haben zudem erhebliche Folgen. Überaus kritisch zu beurteilen ist vor allem die fehlende Trennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Das Grundgesetz sieht für die Bundesrepublik nur eine sogenannte Gewaltenverschränkung vor. Die Bürger wählen lediglich das Parlament. Dieses wiederum wählt die Regierung und bestimmt durch entsprechende Gremien die obersten Bundesrichter. Die sich auf dem Grundgesetz gründende Staatsordnung verfügt somit nicht annähernd über das Maß an Gewaltenteilung wie seinerzeit noch die WRV. Durch das in Artikel 21 GG statuierte Parteienprivileg werden die verfassungsrechtlich etablierten Entscheidungsprozesse durch die Organisationsinteressen der politischen Parteien überlagert und intransparent.

Besonders exemplarisch hat sich das Fehlen einer gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ab 2015 gezeigt. Nach geltender Rechtslage darf die Bundesregierung von bestehenden Einreisebeschränkungen für Nicht-EU-Ausländer in Einzelfällen und für kleinere Kontingente zwar eigenmächtig Ausnahmen erlassen, die Duldung millionenfacher illegaler Einwanderung stellte jedoch faktisch eine komplette Aushebelung des Gesetzes dar, zu der nur das Parlament selbst berechtigt ist. Der damalige Bundestag weigerte sich jedoch bereits, das Thema überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen.

Ein weiteres Problem ist die Ausgestaltung des bundesdeutschen Föderalismus. In der öffentlichen Diskussion werden hierzu meist nur die absurden Regelungen des Länderfinanzausgleichs wahrgenommen, der dazu führt, daß erfolgreich wirtschaftende Bundesländer ihre Überschüsse weitestgehend an andere Bundesländer wieder abführen müssen. Im Staatsaufbau der Bundesrepublik liegt die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich bei den Gliedstaaten, jedoch hat der Bund im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte immer mehr Zuständigkeiten an sich gezogen. Ländern und Kommunen bleibt häufig nur noch die Exekution des Bundesrechts. Im Gegenzug wurde den Ländern über den Bundesrat eine Beteiligung an der Gesetzgebungsbefugnis des Gesamtstaates zugewiesen.

In der Folge sitzen die Länderregierungen zwar meistens mit am Tisch, haben jedoch immer weniger eigene Zuständigkeiten. Dies ist auch einer der Gründe, warum das Grundgesetz in sieben Jahrzehnten bereits 63mal geändert wurde. Zuletzt erfolgte eine Anpassung im März 2019, um es dem Bund zu ermöglichen, Gelder für Digitalisierungsprogramme von Schulen bereitzustellen. Die mit der Föderalismusreform von 2006 beabsichtigte Entflechtung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern wurde damit teilweise wieder kassiert.

Nach wie vor ist die Staatsorganisation der Bundesrepublik geprägt vom Prinzip der Verantwortungsdiffusion. Viele Köche rühren den Brei an, der den Bürgern schließlich serviert wird. Der schlechte Kompromiß wird zum vorherrschenden Politikrezept, und die einzelnen Beiträge sind für den Wähler nicht mehr erkennbar.

Trotz aller Sonntagsreden weist das Grundgesetz also zahlreiche strukturelle Schwächen auf, die vor allem auf die besonderen Umstände seiner Entstehung und auf seinen provisorischen Charakter zurückzuführen sind. Der ursprüngliche grundgesetzliche Auftrag, Deutschland in eine gute Verfassung zu bringen, bleibt daher auch heute weiterhin aktuell.






Dirk Pelster, Jahrgang 1972, ist studierter Jurist, Politikwissenschaftler und Pädagoge. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Rechtsanwalt arbeitet er heute in der beruflichen Weiterbildung sowie als freier Autor.

Foto: Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, unterzeichnet das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 um 17 Uhr: Das Grundgesetz enthält zahlreiche strukturelle Schwächen im Staatsaufbau, die vor allem auf die besonderen Umstände seiner Entstehung und auf seinen ursprünglich provisorischen Charakter zurückzuführen sind