© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Am Anfang war die Lüge
Mit Vertreibungsplänen und KZ-Greueln begründete eine rot-grüne Koalition den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945
Alexander Graf

Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!“ Mit dieser Parole wollte der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) die Skeptiker in der deutschen Bevölkerung während eines Sonderparteitags der Grünen am 13. Mai 1999 mobilisieren. Daß der erste deutsche Waffengang seit 1945 insbesondere bei seinen Parteifreunden nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß, war Fischer nur zu klar. Aber auch die nichtgrünen Deutschen mußten vor zwanzig Jahren von der Notwendigkeit überzeugt werden, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder Truppen in den Kampfeinsatz zu schicken. 

Geheimdienstinformationen aus zweiter und dritter Hand

Die Gründe, die Fischer und Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) damals ins Feld führten, schienen eine militärische Intervention auf dem Balkan zu rechtfertigen. So sprach Scharping auf Pressekonferenzen und in Talkshows wiederholt von einer „humanitären Katastrophe“, die sich im Kosovo abspiele, das damals zum mehrheitlich serbisch bevölkerten Rest-Jugoslawien gehörte. In der Provinz gingen serbische Einheiten der jugoslawischen Armee angeblich mit äußerster Brutalität gegen albanische Zivilisten vor. 

In diesem Zusammenhang tauchte wieder der Begriff der „ethnischen Säuberungen“ auf, der bereits während der vorangegangenen Kriege Mitte der neunziger Jahre auf dem Balkan geprägt worden war. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion regten sich auch auf dem Balkan wieder die Geister der alten Nationalitätenkonflikte. Nachdem Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina zwischen 1991 und 1995 ihre Unabhängigkeit erringen konnten, strebten nun auch die Albaner immer energischer die Loslösung der Provinz Kosovo von der Bundesrepublik Jugoslawien an. Der Konflikt schwelte bereits seit der im September 1992 proklamierten Unabhängigkeit durch die Kosovo-Albaner. Seit 1997 unterstützten immer mehr von ihnen die paramilitärische UÇK, die der jugoslawischen Polizei bewaffnet entgegentrat. 

So schwelte in dieser seit jeher umkämpften Region des Balkans zu Jahresbeginn 1999 ein latenter Bürgerkrieg zwischen der UÇK und jugoslawischen, zumeist serbischen Truppen und ebensolchen Paramilitärs. Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erinnerten sich rückblickend daran, daß die Aggressionen zumeist von albanischer Seite ausgingen. Die Gegenseite reagierte darauf oftmals mit übertriebener Härte. Doch von „ethnischen Säuberungen“ oder gar Massenmorden, wie Scharping sie wiederholt schilderte, war die Situation weit entfernt. 

Auch gab es keine serbischen Konzentrationslager, von denen Scharping im Tonfall tiefster Überzeugung sprach – freilich nicht ohne die deutsche dunkle Vergangenheit zu beschwören. So berichtete er von einem angeblichen KZ in der Stadt Pristina. „Wenn ich höre, daß im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, (...) dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf, außer er wollte in die Fratze der eigenen Geschichte schauen.“ 

Um der pazifizierten deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit eines militärischen Engagements auf dem Balkan auch ohne UN-Mandat zu verkaufen, brachte Scharping ab dem Frühjahr 1999 immer wieder einen angeblichen Geheimplan der Serben ins Spiel. Laut dem sogenannten „Hufeisenplan“ sollte in einer koordinierten Bewegung die albanische Bevölkerung in südlicher Richtung aus dem Kosovo Richtung Albanien vertrieben werden. Aus den drei übrigen Himmelsrichtungen sollten serbische Paramilitärs und jugoslawische Truppen die Albaner gewaltsam vor sich hertreiben oder töten. Bis heute fehlen jedoch stichhaltige Beweise für die Existenz eines solchen Vorgehens der serbischen Einheiten oder auch nur der Planung einer derartigen Aktion. 

Scharping versicherte jedoch am 8. April gegenüber Journalisten, er verfüge über den serbischen Operationsplan zur Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo. Elf Tage später äußerte er in einer Sondersendung der BBC, der „Hufeisenplan“ werde seit Jahresbeginn umgesetzt. In derselben Sendung widersprach ihm allerdings der Nato-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, er wisse nichts über so einen Plan. 

Noch dubioser wurden die Umstände der Angelegenheit, als eine Übersicht von Nachrichtenexperten des Bundesverteidigungsministeriums vorgelegt wurde. Sie wies gravierende Abweichungen von den vorherigen Aussagen Scharpings auf. Entgegen der Ausführungen ihres Ministers gaben seine Mitarbeiter an, keine Details über die eingesetzten jugoslawischen Einheiten zu kennen. Auch sei das Ziel der serbisch-jugoslawischen Kräfte nicht die Vernichtung der albanischen Bevölkerung, sondern lediglich die „Zerschlagung beziehungsweise Neutralisierung der UÇK im Kosovo“. Die angeblichen massiven Truppenverlegungen ins Kosovo habe es auch nicht in dem Umfang gegeben, die ihr Dienstherr kolportierte. 

Dennoch rechtfertigte der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck am 15. April den deutschen Militäreinsatz im Bundestag mit allerlei NS-Vergleichen. Am Ende eines schreckensreichen Jahrhunderts versuche „noch einmal ein wahnwitziger, machtbesessener Diktator, eine ganze Volksgruppe zu vertreiben oder auszulöschen und seinem rassistischen Traum eines ‘ethnisch reinen’“ Staates näherzukommen. In derselben Sitzung des Bundestages bemühte Außenminister Fischer allerlei Faschismusvergleiche, um den letztlich völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu rechtfertigen. „Das Europa der Demokratie kann diese rohe Form des Faschismus nicht akzeptieren.“ Auch das Argument vermuteter, aber letztlich nicht gefundener angeblicher Massengräber fehlte in den Ausführungen des Ministers nicht. 

In den kommenden Wochen mehrten sich die Zweifel an der Version, die von der rot-grünen Bundesregierung ins Feld geführt wurde. Österreichs Außenminister Wolfgang Schüssel (ÖVP) erklärte im April, Informationen des österreichischen Heeres-Nachrichtenamtes an seine EU-Amtskollegen weitergegeben zu haben. Dabei habe es sich laut eines Geheimdienstlers lediglich um unstrukturiertes Material eines Wissenschaftlers des bulgarischen Geheimdienstes gehandelt, das nur die Ereignisse in der Krisenregion vom Jahresbeginn 1999 wiedergegeben habe. 

Fachleute des Bundesverteidigungsministeriums konnten aus dem ihnen vorliegenden Material keine Offensiv- oder gar Vernichtungspläne herauslesen. Ein Jahr später wurde der „Hufeisenplan“ für Scharping immer peinlicher. Der ehemalige General Heinz Loquai, der für die OSZE als Beobachter vor Ort war, bezichtigte ihn öffentlich, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. 

Die Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), weitere Politiker und Sicherheitsexperten verlangten von Scharping in den folgenden Monaten nachdrücklich die Aufklärung über die Situation im Kosovo vor dem Eingreifen der Nato. Schließlich gab der um seine Glaubwürdigkeit kämpfende Sozialdemokrat im April 2000 zu, nur über Geheimdienstinformationen aus zweiter und dritter Hand verfügt zu haben. Er habe kein Originaldokument oder eine Kopie des angeblichen „Hufeisenplans“ gehabt. Scharping mußte damit die Recherchen und Vorwürfe Loquais bestätigen. 

Appell an die Schuldgefühle der Deutschen

Die Lügen schufen Fakten: Angesichts der erdrückenden Überlegenheit der Nato-Luftstreitkräfte zog Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic nach wochenlangen Luftangriffen Anfang Juni 1999 seine Truppen aus dem Kosovo zurück. Wenige Tage nach dem Waffenstillstand vom 11. Juni rückte die Nato-geführte KFOR-Truppe zur Sicherung des brüchigen Friedens in die Provinz ein. Dort sind die internationalen Streitkräfte bis heute präsent. Auch die Bundeswehr ist in der Unruheregion noch vertreten. Es ist nur ein frommer Wunsch, daß die ethnischen Konflikte in der Vielvölkerregion ein für allemal der Vergangenheit angehören. Die Feindseligkeiten brodeln unter der Oberfläche einer relativen Ruhe weiter. Schon Otto von Bismarck hatte vor militärischen Abenteuern im südöstlichen Europa gewarnt: „Der Balkan ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert.“ 

Auch zwanzig Jahre nach dem Waffengang stellt die Bundeswehr somit noch Kräfte für die Folgen eines Einsatzes, den es nach dem Völkerrecht gar nicht hätte geben dürfen. Unter Zuhilfenahme von Täuschungen, erfundenen Schauergeschichten und dem skrupellosen Appell an die bis ins Neurotische verinnerlichten Schuldgefühle der Deutschen haben Scharping und Fischer die Soldaten in den Krieg geschickt. Dabei haben sie ihr eigenes Volk in moralische Geiselhaft genommen. 

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung wieder deutsche Soldaten in einen Angriffskrieg schickte. Der Umstand, daß er völkerrechtswidrig war und sich gegen ein Land richtete, welches bereits zuvor im 20. Jahrhundert von deutschen Truppen attackiert worden war, zeigt, wie sich Geschichte in Variationen sehr wohl wiederholen kann.