© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Mit Schützenhilfe aus Karlsruhe
Die Präambel des Grundgesetzes definierte den Auftrag zur Wiedervereinigung / Bundesverfassungsgericht ließ keine Abweichungen zu
Detlef Kühn

Als die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1949 in einem „Parlamentarischen Rat“ ein Grundgesetz für die demnächst zu gründende Bundesrepublik Deutschland erarbeiteten, war es ihnen wichtig, das, was die Menschen neben ihren persönlichen Nöten im weitgehend zerstörten und von den Siegermächten amputierten Nachkriegs-Deutschland am meisten bewegte, in den politischen Vordergrund zu rücken: Es war die Sorge um die nationale und staatliche Einheit des deutschen Volkes. 

Wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Diese Sorge brachten sie bereits in der Präambel des Gesetzes zum Ausdruck und kleideten sie in die Aufforderung an das gesamte Deutsche Volk, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu „vollenden“. Damit war auch klargestellt, daß sich der (rechtliche) Schutzbereich des Grundgesetzes auf alle Deutschen erstreckte, unabhängig davon, wo sie lebten, ob in der Sowjetischen Besatzungszone, im Saarland oder noch in den östlichen Vertreibungsgebieten. Daneben war der Text der Präambel auch eine wichtige politische Klarstellung gegenüber den Siegermächten, die sich ebenfalls ihre aus der kriegerischen Besetzung hervorgegangenen Rechte an Deutschland als Ganzem vorbehalten hatten. Die Präambel hatte von Anfang an Folgen, deren Bedeutung in der Zeit der Teilung gar nicht überschätzt werden kann:

 Wer als Deutscher in den Geltungsbereich des Grundgesetzes kam, wurde dort wie jeder andere Bundesbürger behandelt. Von den Machthabern in der DDR wurde dies bald als Amtsanmaßung angeprangert. Anfang der siebziger Jahre, als sich die neue Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel abzeichnete, wurde immer wieder von der SED und ihren Gefolgsleuten im Westen die Streichung der Präambel ins Gespräch gebracht. Das war jedoch aus politischen und rechtlichen Gründen  schwer möglich. Das Ziel der Wiedervereinigung wurde damals von keiner Partei in Frage gestellt. Auch taktische Überlegungen dieser Art verboten sich, weil man mit einer Überprüfung der neuen Vertragspolitik mit der DDR durch das Bundesverfassungsgericht rechnen mußte. Und in der Tat: In seinem Urteil von 1974 über den Grundlagenvertrag mit der DDR stellte das höchste deutsche Gericht klar, daß dieses Vertragswerk nur unter der Bedingung verfassungskonform ist, daß alle staatlichen Organe in der Bundesrepublik am Ziel der Wiedervereinigung festhalten und aktiv darauf hinwirken (Leitsatz 4). In der Folge haben die wechselnden Bundesregierungen den ersten Teil dieses Verfassungsauftrags nicht in Frage gestellt, auch wenn von einer aktiven Wiedervereinigungspolitik kaum gesprochen werden kann. Sie hätte entsprechende Initiativen vor allem gegenüber der Sowjetunion erfordert, wo sich erst nach dem Amtsantritt des KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow nach 1985 aussichtsreiche Chancen abzeichneten.

Während der achtziger Jahre machte sich im politischen Leben der Bundesrepublik schleichend ein Prozeß der Gewöhnung an die Teilung Deutschlands bemerkbar. Um des lieben Friedens willen glaubte man, sich mit der Teilung abfinden zu können oder gar zu müssen. Auch gegenüber den westeuropäischen Nachbarn schien eine Wiedervereinigung manchen Politikern in Bonn nicht zumutbar. Sie liebten ja Deutschland so, daß „sie lieber zwei davon hätten als eines“ (An-dré Malraux). Als Feigenblatt für das feige Zurückweichen vor dem immer noch menschenverachtenden und gefährlichen Regime im Osten Deutschlands diente die Hoffnung auf Europa. Wenn erst das vereinte Europa von Lissabon bis Wladiwostok existiere, sei selbstverständlich auch die nationale Frage der Deutschen beantwortet, glaubten auch vermeintlich Konservative in Bonn. 

Die SPD in der Opposition zur Regierung Helmut Kohl hatte schon frühzeitig mit der SED Gespräche darüber aufgenommen, wie die Zukunft unter den Bedingungen der Teilung gestaltet werden könne. Da die Kommunisten erklärt hatten, sie würden jede Veränderung zu ihren Lasten gewaltsam unterbinden, wollte man die Überwindung der Teilung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.

Die friedliche Revolution in der DDR 1989/90 bereitete all dem ein abruptes Ende. In wenigen Monaten „wuchs zusammen, was zusammengehört“ (W. Brandt). Die Defätisten waren verstummt; der Verfassungsauftrag war erfüllt.






Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.