© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Ethnisch zerklüftet
Die Historiker Wlodzimierz Borodziej und Maciej Gorny über Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg
Jürgen W. Schmidt

Die Sommeschlacht, der Berg Kemmel in Flandern oder die Festung Verdun waren lange Zeit im europäischen Gedächtnis fest verankerte Begriffe, und auf den historischen Schlachtfeldern in Westeuropa wird durch vielfältige Hinweise wie Museen und Soldatenfriedhöfe an die Ereignisse vor hundert Jahren erinnert. Aber wer kennt eigentlich noch den Ort Przasnysz (deutsch Praschnitz) im südlichen Ostpreußen, wo im November und Dezember 1914 und nochmals im Februar und Juli 1915 in drei Schlachten Deutsche und Russen aufeinandertrafen und die Zahl der beidseits Gefallenen, Vermißten und Verwundeten weit über 100.000 Mann liegen dürfte? 

Einer der führenden polnischen Neuzeithistoriker, Wlodzimierz Borodziej  von der Universität Warschau, und sein jüngerer Fachkollege Maciej Gorny von der Polnischen Akademie der Wissenschaften haben es unternommen, in einer zweibändigen Studie auf Spurensuche zu gehen, und sie sind dabei in reichem Maße fündig geworden. Als erstes entdeckten sie, daß der Erste Weltkrieg in Osteuropa und auf dem Balkan eine lange Vorgeschichte und ebenso lange Nachwirkungen hatte, weswegen ihre Untersuchung bereits mit den Balkankriegen 1912 beginnt und mit dem Vertrag von Lausanne 1923 endet. 

Die Historiker stellen ihre Untersuchung als eine Mischung aus Militär- und Sozialgeschichte dar, wobei die einzelnen thematischen Kapitel immer wieder von historischen Fallstudien durchsetzt sind, um durch genaues Eingehen auf Ereignisse und Personen ein tieferes Verständnis für die ablaufenden historischen Prozesse zu wecken. 

Daß man vielsprachig wie die Bevölkerung Osteuropas und des Balkans sein muß, um die Ereignisse des Ersten Weltkriegs in jenen ethnisch zerklüfteten Regionen als Historiker nachzuvollziehen, beweist ein Blick in das Verzeichnis der verwendeten Archivalien, der zeitgenössischen Presseerzeugnisse und der verwendeten historischen Fachliteratur, wobei Borodziej und Gorny großen Wert darauf legen, hier neue Erkenntnisse und Trends aufzugreifen. 

Viele Jahrzehnte hielt sich beispielsweise die Legende, österreichische, aus tschechischen Soldaten bestehende Regimenter wären seinerzeit aus slawischer Bruderliebe mit klingendem Spiel auf die russische Seite übergegangen. In einer faszinierenden Dissertation hatte bereits der Wiener Historiker Richard Lein 2011 diese Legende falsifiziert und Borodziej/Gorny haben lobenswerterweise Leins Erkenntnisse aufgegriffen und ausgebaut. Ebenso dürfte manche die Feststellung erstaunen, daß in der jungen polnischen Republik der Nachkriegszeit gerade mal zwanzig Prozent der Weltkriegsveteranen in nationalpolnischen Truppenteilen dienten, während die restlichen achzig Prozent den Krieg in deutschen, österreichischen oder russischen Uniformen erlebt hatten. 

Für viele Mitteleuropäer begann damals Asien „schon hinter der Weichsel“. Staunend und mitunter erschüttert oder gar erschreckt trafen die Soldaten der kriegführenden Mächte auf die in ihren Augen häufig recht primitiven Lebensbedingungen der Bevölkerung in den westlichen Provinzen des Zarenreichs. Mangelnde Hygiene und die Vielzahl der grassierenden Erkrankungen von Typhus, Cholera bis hin zu massenhaften Geschlechtskrankheiten wirkten erschreckend. Hinzu kam, daß sich die deutschen Soldaten auch angesichts der ethnischen Zerklüftung schwer mit den ehemaligen Untertanen des Zaren zwischen Memel und Pruth verständigen konnten. 

Das eingerichtete militärische Besatzungsregime blieb hingegen der örtlichen Bevölkerung häufig unverständlich und man versuchte hemmende Regeln und Bestimmungen auf alle mögliche Art und Weise zu umgehen. Waren Kämpfe, Besatzungsregime, Krankheiten und Hunger schon für Soldaten wie Zivilisten schlimm genug, so kamen 1917/18 im Gefolge der russischen Revolution noch Bürgerkriege hinzu. Kleinere Völker, welche bisher in die drei großen Imperien Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Russisches Zarenreich eingebettet waren, gelangten in mehr oder minder heftige Auseinandersetzungen, um die ersehnte nationale Selbständigkeit zu erringen. Dabei wurde manche bislang national unterdrückte Nation nunmehr selbst zum nationalen Unterdrücker, so etwa im neuerstandenen Polen, wo Deutsche, Juden, Ukrainer und Weißrussen kurzgehalten wurden. 

Andere Völker wie die Ukrainer scheiterten nach blutigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen daran, einen eigenen Nationalstaat zu schaffen und fielen wieder in ein Imperium, diesmal in das sowjetrussische, zurück. Auch die Umbrüche in der Wirtschaft der einzelnen Länder, wo sich Export- und Importverhältnisse jäh änderten und ganze Industrien eingingen bzw. neu geschaffen wurden, hatten erhebliche Auswirkungen auf die Menschen. Neugezogene Staatsgrenzen machten die Vertreibung ethnisch unerwünschter Bevölkerungsgruppen als ein Mittel der Politik salonfähig. 

Und nicht zuletzt erhob im Rahmen jener gewaltsamen Umbrüche auf dem Balkan und in Osteuropa ein gewalttätiger Antisemitismus von Teilen bestimmter Völkerschaften – etwa der Ukrainer – sein Haupt, der für die Zukunft Schlimmes erahnen ließ. Wlodzimierz Borodziej und Maciej Gorny haben ein ebenso lesenswertes wie faktenreiches Werk geschaffen und dabei lobenswerterweise auf die Akzentuierung polnischer Befindlichkeiten und die Erörterung abstrakter Schuldfragen zugunsten einer übergreifenden Analyse verzichtet. Der Erste Weltkrieg war auch in Osteuropa und auf dem Balkan ein einer Naturgewalt gleichendes Verhängnis.

Wlodzimierz Borodziej, Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923, Band 1: Imperien 1912–1916 und Band 2: Nationen 1917–1923, Theiss Verlag, Darmstadt 2018, 414 bzw. 544 Seiten, Abbildungen, 79,95 Euro