© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Das Wunder von Elbflorenz
Dresden: Vor 25 Jahren wurde der erste Stein für den Wiederaufbau der Frauenkirche gelegt
Paul Leonhard

Nach einem leisen Knistern neigte sich plötzlich die gewaltige Kirchenkuppel in Richtung des ausgeglühten Pfeiles der Südostecke. Ihr nun ungleichmäßig verteiltes, in Bewegung geratenes Gewicht führte binnen Sekundenbruchteilen zum Bersten aller anderen Pfeiler. Unter dem gewaltigen Druck der zunächst noch als nahezu Ganzes herabstürzenden, sich dabei etwas um ihre eigene Achse drehenden und immer weiter zerberstenden Kuppel wurden die massiven Außenmauern auseinandergesprengt, das Gebäude fiel mit einem dumpfen Knall in sich zusammen. 

Eine riesige schwarze Staubwolke stieg am 15. Februar 1945 gegen zehn Uhr über der Stadt auf. Die bis dahin noch immer die Silhouette des brennenden Dresdens überragende Kuppel der barocken Frauenkirche war verschwunden. „Dieses Ereignis übertraf in seiner Symbolkraft für viele Dresdner die vorangegangenen Zerstörungen noch; für sie war die letzte Hoffnung, wenigstens etwas vom alten Dresden erhalten zu können, zerstört“, heißt es in einem Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks.

Bis zur Nacht zum 14. Februar 1945 hatten die Dresdner gehofft, daß der internationale Ruf ihrer Kulturstadt diese vor einem gezielten Flächenbombardement der Alliierten bewahren werde. Jetzt aber war die barocke Stadt in einem Feuersturm samt ihrer Bewohner vernichtet worden. Die neuen Machthaber wiesen anklagend auf die westlichen Siegermächte und ließen gleichzeitig – abgesehen von wenigen historischen Objekten – die gesamte Innenstadt bis in die sechziger Jahre abräumen, um sie nach städteplanerischen Vorgaben, die kaum Rücksicht auf das Einstige nahmen, neu aufzubauen. 

Den Überlebenden und den aus dem Krieg Zurückkehrenden blieb allein das in ihrem Inneren bewahrte Bild der unzerstörten Stadt. Es gab und gibt wohl kaum eine gute Stube der Jahrgänge bis 1940 in der Elbestadt, in der nicht ein Bild der unzerstörten Frauenkirche und ein Canaletto-Stich des Altmarktes hängen.

Seit 15 Jahren thront die Bährsche Sandsteinkuppel mit ihrem goldenen Kreuz wieder über der Altstadt. Für die Nachwendegeneration ist es ebenso schwer vorstellbar, daß an ihrer Stelle sechs Jahrzehnte eine Ruine aus rußverfärbtem Sandstein 17 Meter hoch ragte, wie für deren Großeltern, daß dieses die Stadt beherrschende protestantische Bauwerk plötzlich verschwunden war.

Der gelungene Wiederaufbau der Frauenkirche ist wohl auch deswegen einzigartig, weil er mit unzähligen Geschichten verbunden ist. Diese erzählen vom unbeirrbaren Glauben an ein Wiedererstehen des alten Dresdens, von der Euphorie und der Energie der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, von einem einmaligen bürgerlichen Engagement, aber auch von Versöhnung, Zufallsfunden unter den Trümmern und statischen Befunden, die nicht nur die Bauherren im 18. Jahrhundert zum Verzweifeln gebracht hatten, sondern auch ihre Nachfolger. So konnten sich nur noch wenige Dresdner daran erinnern, daß die Frauenkirche seit 1924 mit kurzer Unterbrechung baupolizeilich gesperrt war und erst 1942 wieder geweiht wurde. Das Grundproblem des Baus, die ständig auseinandertreibende und absinkende Kuppel, blieb ungelöst.

Während die Großeltern- und Elterngeneration in ihren Herzen die 1743 geweihte mächtige Sandsteinkirche bewahrte, wurde ihre traurige Ruine für die oppositionellen Jugendlichen der „Schwerter zu Pflugscharen“-Bewegung zum Symbol. Seit den Friedensgebeten 1983, als die Menschen in den Abendstunden des 13. Februar aus der Kreuzkirche am Altmarkt mit brennenden Kerzen zur Frauenkirchenruine zogen, um dort der Opfer des Bombenangriffs zu gedenken, war ausgerechnet der von der SED zum „Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung“ deklarierte Trümmerberg zu einem Symbol des friedlichen Widerstandes gegen die zunehmende Militarisierung des DDR-Alltags geworden. 

Der entstandene Konflikt verstärkte sich, als die Einheitssozialisten ihre Kampfreserve im Blauhemd, brennende Fackeln in den Fäusten, in den Folgejahren ebenfalls zum Totengedenken an der Ruine aufmarschieren ließ. Fackeln und grimmige Gesichter gegen kleine Kerzen und trotzig Trauernde, das erinnerte erschreckend an jene Jahre, als die Kirche „unser Dom“ hieß und in ihren als bombensicher geltenden Gewölben Zehntausende Zelluloid-Filme eines Luftwaffenarchivs lagerten. 

Diese sollten schuld gewesen sein, daß die Kirche am 15. Januar 1945 zusammenfiel. Daß das Gerücht mit dem Filmarchiv stimmte, stellte sich heraus, als bei der archäologischen Trümmerberäumung einige Filme fast unversehrt geborgen wurden. Damit war aber auch die These widerlegt, daß die Filme zur sich in der Kirche entwickelnden Brandhitze und damit zum Einsturz des Gebäudes beigetragen hatten. Experten verwiesen auf das verwendete schlechte Fugenmaterial und den minderwertigen Sandstein. Beides konnte nicht so der Hitze widerstehen wie die aus Hartstein errichtete nahe Hofkirche und die Kreuzkirche.

Gerüchte über einen möglichen Wiederaufbau der Frauenkirche gab es zu DDR-Zeiten immer wieder. Eines davon lautete, daß die Amerikaner angeboten hätten, diesen komplett zu finanzieren. Tatsächlich forderte die SED die Kirche Anfang der 1980er auf, das Gotteshaus mit Westgeldern wieder aufzu bauen. Die Sächsische Landeskirche lehnte ab, wie sie überhaupt zu jenen Gruppierungen gehörte, die am längsten an der Idee der Konservierung der Ruine als Versöhnungsdenkmal festhielten. 

Auch deswegen war der schon während der Montagsdemonstrationen der Friedlichen Revolution immer lauter werdende Ruf nach einem Wiederaufbau der Frauenkirche nicht unumstritten gewesen. Viele hatten sich an diese Ruine inmitten der Stadt gewöhnt. Daß mit der Kirche auch der gesamte Neumarkt mit seinen Bürgerhäusern nach altem Vorbild entstehen könnte, daran arbeiteten nur die Kühnsten.

Die Ruine der Frauenkirche besaß eine mythische Kraft, deren Wirkung sich früh die Sachsen-Union bewußt wurde und für ihren Wahlkampf nutzte. So ließ sie in der Wendezeit mehrfach Bundeskanzler Helmut Kohl hier sprechen. Die Trümmer des Barocks im Rücken sagte der Kanzler der Einheit die eben dem DDR-Staatschef und bald danach als Wahlfälscher verurteilten Hans Modrow schon versprochene Föderation ab. Unter dem Jubel der Kundgebungsteilnehmer versprach er D-Mark, Wiedervereinigung und „blühende Landschaften“.

Ein endgültiges Umdenken im Pro und Contra des Wiederaufbaus der Frauenkirche setzte ein, als sich herausstellte, daß auch die vorhandenen Großtrümmer vom Zerfall bedroht waren. Sollten viele Millionen Euro in die Sanierung eines 17 Meter hohen Trümmerberges versenkt werden? Nein, Dresden war sich jetzt wieder einig: Die Frauenkirche sollte in altem Glanz entstehen.

Startrompeter Ludwig Güttler erhob sein Instrument. Der „Ruf aus Dresden“, bereits im November 1989 von Pfarrer Karl-Ludwig Hoch formuliert, wurde in der ganzen Welt gehört. Kleine und große Spenden kamen nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, wo der Wiederaufbau der Kirche als nationale Verpflichtung verstanden wurde, sondern aus ganz Europa, selbst aus den Ländern, die einst die Terrorbomber geschickt hatten.

Aus einer Gruppe Intellektueller entstand die Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus der Frauenkirche Dresden und aus dieser 1991 die „Stiftung für den Wiederaufbau Frauenkirche“, die den gesamten Wiederaufbau leitete.  Anfang 1993 begann die Enttrümmerung. Am 27. Mai 1994 wurde der Grundstein der neuen Frauenkirche gelegt. Es begann der Wiederaufbau auf alten Fundamenten und Grundmauern. Mehr als 8.000 Steine wurden geborgen und 3.539 davon in die Außenfassade eingebaut, darunter das 74 Tonnen schwere Dachteil des nordöstlichen Glockenturms, die Reste des Eckturms und des Chors. 

Die Mittel, die den kontinuierlichen Wiederaufbau der Frauenkirche ermöglichten, kamen aus Spenden. Rund 115 Millionen Euro flossen aus aller Welt nach Dresden, darunter von den US-amerikanischen „Friends of Dresden“ und dem britischen „Dresden Trust“. Weitere 65 Millionen Euro übernahmen Stadt, Land und Bund zu gleichen Teilen.

2005 war das Wunder auch im Inneren vollendet. Am 30. Oktober fand der Weihegottesdienst statt. Das Projekt hatte eine Kraft entwickelt, der sich kaum jemand entziehen konnte. Und das neu erstarkte Dresdner Bürgertum nutzte den Schwung, um nach der Frauenkirche die Rekonstruktion des sie umgebenden Neumarktes mit seinen Bürgerhäusern zu fordern. Das erwies sich als schwieriger als der Kirchenbau. Private Investoren wollten preisgünstig, nicht historisch bauen. Es begann ein zähes Ringen mit der Gesellschaft Historischer Neumarkt, die nachdrücklich für den Aufbau des Viertels nach historischem Vorbild kämpfte. Am Anfang verspottet und als Verfechter eines Disneyland-Dresdens verunglimpft, löste die Gesellschaft ein deutschlandweites Umdenken über den Umgang mit kriegszerstörten Innenstädten aus, wie sich bald am Beispiel Frankfurt am Main zeigen sollte.

In Dresden ist inzwischen auch der Wiederaufbau des Viertels um die Frauenkirche fast abgeschlossen. Wie richtig die Entscheidung war, den Investoren strikte Vorgaben zu machen, fällt schon am benachbarten Postplatz auf. Dieser und das gesamte Arreal bis an den ehemaligen Wettiner Bahnhof sind ein Beispiel dafür, was am Neumarkt hätte auch entstehen können (und auf dem Altmarkt passiert ist): gesichtslose Bauten westdeutscher Architekturbüros ohne Charme und Charakter, die kaum Luft zum Atmen lassen. Wer auf der Aussichtsplattform der Frauenkirche in 67 Meter Höhe steht, kann sich davon ein Bild machen. Zwei Millionen Menschen besichtigen jährlich die Kirche.