© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Sie wollen doch nur spielen
Rockmusik: Das neue Rammstein-Album hält, was die Band seit jeher auszeichnet
Bernd Roloff

Erwachsene Menschen versammeln sich Samstag mittag in Hamburg vor einem Elektronik-Markt und stellen sich brav an, um ein riesiges Streichholz auf einem Truck zu streicheln und sich mit ihm fotografieren zu lassen. Es ist Tag eins nach der Veröffentlichung des neuen Rammstein-Albums, und der Promotion-Tieflader ist vorgefahren, um der Fangemeinde eine ertastbare Erfahrung des Cover-Motivs zu verschaffen.

Offiziell hat das siebte Album der Band keinen Titel. Das Streichholz ist ein sogenanntes Objet trouvé, ein Alltagsgegenstand der im künstlerischen Kontext präsentiert wird. Gewiß eine Überraschung, hätte man doch nach dem der Promotion geschuldeten provokativen Vorgeplänkel irgend etwas Verschwurbeltes aus Blut und Feuer erwartet und einen Albumtitel vielleicht aus dem Sadomaso-Vokabular. Zündet das Album trotzdem? Diese Frage ist ohne Einschränkungen zu bejahen.

Die Ende März vorab ausgekoppelte Single „Deutschland“ erreichte über Nacht Platz eins in den Charts. Für mediale Aufregung hatte zuvor ein kurzer Videoteaser gesorgt, der Bandmitglieder als KZ-Häftlinge mit Strick um den Hals zeigte. Das zwei Tage später dann veröffentlichte, mehr als neunminütige Musikvideo bietet einen Parforceritt durch 2.000 Jahre deutscher Geschichte mit einer farbigen Germania als Protagonistin. Bis heute wurde es knapp 52 Millionen Mal aufgerufen – Tendenz weiter rasant steigend. Keine Frage, Rammstein hat geliefert. Einmal mehr offenbart sich: Die sechs Jungs wollen doch nur spielen. Indem sie Erwartungen bedienen, unterlaufen sie diese zugleich. Und jede Wette: Auf der längst ausverkauften Stadion-Tournee durch Europa werden die notorischen Mißversteher die Zeile „Deutschland, Deutschland über allen“ lauter mitsingen als die kritischen Lyrics: „Deutschland – deine Liebe ist Fluch und Segen / Deutschland – meine Liebe kann ich dir nicht geben“. Die Zeitschrift Metal Hammer spricht von einem „Meisterstück“, einem „Über-Song“, der die Fans niederknien lassen werde: „Eine zeitlose Hymne, zur rechten Zeit am rechten Platz. Mitten in das Herz einer Nation, die, kopflos und verwirrt wirkend, genau solch eine Mahnung gebrauchen kann.“

Die Band ist Kulturträger und Exportschlager

Die erfolgreichste deutsch singende Band ist längst zum internationalen Kulturträger und Exportschlager avanciert, und dies gründet maßgeblich auf den Dichtkünsten des Sängers Till Lindemann. Neuerdings hat sich der 56jährige sogar dazu befähigt, auch Romantisches zu singen. „Du läßt die Welt um mich verblassen / Kann den Blick nicht von dir lassen (…) Du bist schön wie ein Diamant“, heißt es in dem Stück „Diamant“. Natürlich endet die Affäre wieder böse: „Und dieses Funkeln deiner Augen, wird die Seele aus mir saugen.“ Ja, geht klar, Herr Lindemann.

In dem Stück „Was ich liebe“ zementiert Lindemann übrigens auch mal wieder seinen seit jeher demonstrativ ausgestellten Nihilismus: „Was ich liebe, das wird verderben / Was ich liebe, das muß auch sterben“. Andererseits huldigt er in dem Titel „Ausländer“ einer fröhlichen Promiskuität: „Ich bin kein Mann für eine Nacht / Ich bleibe höchstens ein, zwei Stunden / Bevor die Sonne wieder lacht / Bin ich doch schon längst verschwunden / Und ziehe weiter meine Runden“, singt der Mann, dessen jüngeres Konterfei sich einst das It-Girl Sophia Thomalla in der Eroberungsphase ihrer Beziehung auf den Unterarm tätowieren ließ. „Tattoo“ heißt dann eben auch ein weiterer Titel auf dem Album: „Ich zeige meine Haut / Bilder die mir so vertraut“.

Musikalisch kommt das Album ein wenig poppiger daher als sein zehn Jahre alter und zeitweise indizierter Vorgänger „Liebe ist für alle da“. In dem Stück „Radio“, der zweiten Single-Auskoppelung, will die Musikkritik Anleihen der Elektro-Pioniere von „Kraftwerk“ herausgehört haben. In der Tat kommt der Keyboarder Flake Lorenz (52) auf dem Streichholz-Album gefühlt häufiger in den Vordergrund, als man es von Rammstein gewohnt ist. Nach wie vor halten aber die Hochgeschwindigkeits-Stakkato-Riffs der Gitarristen Paul Landers und Richard Kruspe und das kraftstrotzende Schlagzeug von Christoph „Doom“ Schneider den Rammstein-Tieflader in der Spur. Bassist Oliver Riedel, ein sehr zurückhaltender Mensch und zeitweise Baumhausbewohner, ist wie immer der Diesel im Tank.

Mal was Neues: Das Intro von „Zeig dich“, einem Titel, der auf den Mißbrauchsskandal in der katholischen Kirche abzielt, bietet einen sakral anmutenden Chorgesang. In einer schwarzweiß bebilderten Meldung der Band auf Facebook hieß es dazu im September vorigen Jahres: „Aufnahmen von Orchester und Chor in Minsk für das siebte Studioalbum!“ Die Pointe daran: Der Gesellschaftliche Rat für Sittlichkeit in Weißrußland hatte Anfang 2010 Rammstein zum Staatsfeind erklärt, weil deren Lieder „Gewalt, Masochismus, Homosexualität und andere Abartigkeiten“ verherrlichen würden und ein Auftrittsverbot ausgesprochen. Hat Rammstein etwa der dortigen Diktatur ein wenig Stimme und Klang geklaut? Kommt da noch eine Pressemitteilung des Managements über eine lustige Petitesse?

Spektakuläre Bühnenshow mit Pyrotechnik

Die Bühne für die jetztige Stadion-Tour ist jedenfalls eine monumentale Konstruktion, die Licht, Feuer, Pyrotechnik, Rauch und Bilder in nie gesehener Intensität und Präzision spenden wird. Und doch gibt es einen Abstieg: Die Tour für das Streichholz-Album beginnt am 27. Mai mit zwei Konzerten im beschaulichen Gelsenkirchen. Die Tour für das Vorgänger-Album „Liebe ist für alle da“ startete seinerzeit in Lissabon. In Fado-Kneipen dieser sonnigen Metropole konnte man schon mal mit Gleichgesinnten vorglühen.

Weitere Stationen werden München, Dresden und das Ostseestadion in Rostock sein. Vorläufiger Höhepunkt ist dann sicherlich das Konzert im Berliner Olympiastadion am 22. Juni. Das in diesem Bauwerk „Deutschland, Deutschland über allen“ gesungen wird, gefällt bestimmt nicht jedem. Aber Vorsicht! Rammstein steht in besonderer Weise für das, was Umberto Eco in seinem 1973 auf deutsch erschienenen Essay als „offenes Kunstwerk“ bezeichnet hat. Der Rezipient hat hiernach die uneingeschränkte Deutungshoheit über das Gehörte und Gesehene. 

Rammstein Vertigo Berlin (Universal Music) 2019  www.rammstein.de