© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Nichts geht über die Familie
Kino: Edward Bergers „All My Loving“ erzählt vom Leben dreier Geschwister
Sebastian Hennig

Zu Beginn von „All My Loving“ treffen sich drei Geschwister in einem Restaurant. Julia, Stefan und Tobias Hofmann müssen sich einigen, wer von ihnen zuweilen nach den Eltern sieht. Der Pilot Stefan (Lars Eidinger) scheidet berufsbedingt aus. Julia (Nele Mueller-Stöfen) gibt sich gleichfalls kurz angebunden. Ihr Hund Rocco wartet. Mit gespieltem Beleidigtsein entflieht sie der Verantwortung. Alle Erwartungen ruhen auf Tobias (Hans Löw). Dessen rhetorische Frage verhallt folgenlos. „Drei Kinder und die Diplomarbeit, reicht das nicht?“

Die Wahrheit hinter den Schutzbehauptungen erfahren wir in drei Episoden aus dem Leben der Geschwister. Die Teilerzählungen sind nur lose verknüpft. Wieder einmal werden wir zu Zeugen gemacht und ein wenig auch zu Komplizen, wie Erwachsene nach einem verspäteten Glück haschen. Darin, daß man sich dieser Spießgesellenschaft bald zu schämen beginnt, könnte ein moralischer Anspruch des Films liegen.

Der Pilot lebt getrennt von Frau und Tochter. Er nährt sich mit Proteinlösung und wischt die Exkremente des Hundes seiner Schwester vom Laminat der sterilen Wohnräume. Seit einem Vierteljahr ist er krank geschrieben. Jetzt macht ihm der Arzt klar, daß wegen eines Gehörverlusts an Rückkehr in den Beruf nicht zu denken ist. Gleichwohl verführt Stefan allabendlich in Pilotenuniform junge Frauen an der Hotelbar. Die glauben ihm nur allzu gern, wenn er kokettiert, morgen bereits in Barcelona zu sein. Statt dessen erwacht er nach dem faden Vergnügen im Hotelbett neben der Kurzzeitbekanntschaft. So billig der Triumph, so beschämend ist auch die Niederlage. Seiner Tochter kann er keinen Halt geben. Die hält es nicht mehr aus bei der depressiven Mutter, seit die von ihrem Lebensgefährten verlassen wurde. 

Aus den rauchenden Trümmern der Lebensträume ragen die verkohlten Balken des Familiengebäudes. Regisseur und Drehbuchautor Edward Berger sagt dazu: „Für viele ist sie das höchste Gut, für einige ein dunkler Schatten. Doch mag sich unser Verhältnis zu unseren Familien noch so sehr voneinander unterscheiden – sie bleibt bei uns. Die Familie – in ihren vielfältigen Formen – ist der Kontext, aus dem heraus wir entstehen und bestehen, aus dem heraus wir uns entfalten, uns fortentwickeln und aus dem wir kaum entkommen können, der unwiderruflich gegeben ist.“

Im Schweigen wird das Geplapper gegenstandslos

Während der Bruder ihren Hund betreut, reist Julia mit ihrem Mann Christian (Godehard Giese) nach Turin ins Hotel Inglaterra. Sie sammelt einen angefahrenen Straßenköter auf und bestellt einen Arzt auf das Hotelzimmer. Der Italiener ist konsterniert, als sie ihm sagt, daß es keinen Unterschied mache, ob ein Tier oder ein Mensch zu versorgen sei. Dann versteht er plötzlich: Ah, eine Deutsche.

Seit dem Unfalltod des gemeinsamen Sohnes klammert sich Julia an ihr Unglück. Die Rechtfertigung ihres merkwürdigen Verhaltens tritt erst allmählich zutage. Christian behandelt Julia wie ein rohes Ei. Sie küßt statt seiner die Promenadenmischung und flüstert zärtlich: „Ich hab dich so gern.“ Nur über den Hund gelangt Christian zu Julia.

Der läppische Anlaß der Erzählung wird veredelt durch großes Schauspielerkino. Denn so dürftig zuweilen die Geschichten sind, so gediegen ist immer noch die handwerkliche Durchführung des deutschen Autorenfilms. Zum Titel erläutert Berger: „Da das deutsche Wort ‘Liebe’ in meinen Ohren pathetisch und melodramatisch klingt, nahm ich den Umweg über das Englische. Es gibt dem Wort einen Hauch Distanziertheit. Trotzdem weiß jeder, was gemeint ist.“ 

Tobias betreut die Kinder. Seine vollbeschäftigte Frau steckt ihm Haushaltsgeld zu. Zudem hat er noch die Sorge um die zunehmend sonderbarer werdenden Eltern. Die verschmitzte Greisin Christine Schorn und der grantlige Alte Manfred Zapatka kommen erst gegen Ende des Films zur Geltung. Berger dazu: „Der Klarheit der ersten Episode mit Lars Eidinger stellt der Film schließlich in der letzten Episode das Chaos im Haus der Eltern entgegen, in dem die Zeichen auf Umbruch stehen.“

Doch der Zerfall nistet sich gerade in der Klarheit ein, während dem Umbruch eine Gestalt entsteigt. Auch die Alten wollen der Realität nicht ins Auge sehen. Während der Vater in klarer Todesahnung medizinische Versorgung verweigert, plant die Mutter ambitionierte Umbauten des Hauses. Polnische Arbeiter machen den Lebensraum zu einer Baustelle. Der altersschwache Vater sammelt seine letzten Kräfte ausgerechnet dazu, das Selbstbewußtsein seines Sohnes anzugreifen. Doch es ist nur Geplapper, das gegenstandslos wird, sobald die Männer sich einfach nur schweigend gegenübersitzen.

Immer wieder bietet der Film solche einzelnen schönen Einstellungen auf. Wenn sich Tobias mit den Röntgenbildern des kranken Vaters auf den Weg begibt, dann kommen dem bergan strebenden Fußgänger grell gekleidete Rennradler entgegengestürzt. Zuletzt hält die Großmutter und Witwe das Neugeborene ihrer schwierigen Tochter in den altersschwachen Händen. Ein stilles Gespräch aus Willkommen und Abschied.