© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

„Ihre Tränen fielen in die Spree“
Literatur: Ein „Spiegel“-Journalist schreibt einen NS-Kitschroman, und der renommierte Hanser-Verlag veröffentlicht ihn
Markus Brandstetter

Ein Mensch will einen Roman schreiben. Er hat allerdings ein Problem: Er hat keine Romanfiguren, keinen Konflikt, keinen Höhepunkt, keinen Katharsis, sprich keine Handlung. Im Endeffekt hat er gar nichts als den Plan, irgendwas zu schreiben. Was tut er? Aufgeben? Bloß nicht. Einen Roman schreiben ist viel einfacher, als die meisten denken. Hat ein Möchtegernautor erst einmal den passenden Stoff gefunden, dann kommt der Rest von selbst. Um den zu finden, wühlt unser Romancier in spe deshalb ein bißchen in der deutschen Geschichte. Irgendwo findet er da bestimmt ein paar Brocken, aus denen sich ein Roman basteln läßt. Aber die deutsche Geschichte ist lang und unübersichtlich.

Wie findet er da seinen Stoff? Wo bedient er sich am besten? Bei den Germanen? Den Rittern des Mittelalters? Irgendwo im Dreißigjährigen Krieg, im Siebenjährigen Krieg, im Ersten Weltkrieg? Natürlich nicht. Das sind tote Stoffe, von denen unser Autor erstens keine Ahnung hat und die zweitens keinen interessieren. Nein, unser Mann wendet sich dem Abschnitt der deutschen Geschichte zu, der zwar nur zwölf Jahre dauerte, im Denken von Journalisten, Fernsehproduzenten, Verschwörungstheoretikern, Comiczeichnern, Hollywood-Regisseuren und Neo-nazis die restliche deutsche Geschichte seit dem Neolithikum vollkommen in den Schatten stellt. Die Rede ist vom Nationalsozialismus.

Die jüdische „Greiferin“ half der Gestapo

Natürlich ist auch dieses Feld inzwischen ganz schön abgegrast, es gibt längst einige gute Romane über die NS-Zeit, beispielsweise „Mephisto“ von Klaus Mann, „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker oder „Tadellöser & Wolff“ von Walter Kempowski. Und es gibt noch viel mehr Schrott, den wir hier ignorieren. Aber egal wie und was: Für einen weiteren NS-Roman reicht es immer noch. Das Dritte Reich hat andauernd Konjunktur. Je weiter es in der Vergangenheit versinkt, desto näher kommt es uns wieder. Nietzsche hat diesen Prozeß im „Zarathustra“ die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ genannt. Solcherart müssen die Gedanken gewesen sein, die dem Spiegel-Journalisten Takis Würger (33) durch den Kopf gingen, als er sich daran machte, den Roman „Stella“ zu schreiben.

Aus dieser ganzen Geisterbahn von Figuren, die das Dritte Reich bietet, hat Würger sich mit Talent und Geschmack eine der widerlichsten herausgesucht, nämlich die Berlinerin Stella Goldschlag, nach welcher der Roman auch benannt ist. Diese Stella war eine sogenannte „Greiferin“, das ist die Bezeichnung für eine Jüdin, die Polizei und Gestapo dabei half, untergetauchte Juden aufzuspüren und zu verhaften, worauf sie in die Vernichtungslager geschickt wurden. Goldschlag soll insgesamt der Gestapo dabei geholfen haben, mehr als 600 Juden aufzuspüren, von denen die meisten später in Konzentrationslagern ermordet wurden.

Stella Goldschlag (1922–1994) hat es wirklich gegeben. Sie war das einzige Kind assimilierter Juden aus Berlin, die nach der Kristallnacht Deutschland verlassen wollten, sich aber keine Visa kaufen konnten. Als Goldschlags Eltern und sie selbst 1943 von der Gestapo verhaftet wurden, erklärte sie sich bereit, gegen ein Kopfgeld von 300 Reichsmark für Polizei und Gestapo Juden aufzuspüren – immer in der Hoffnung, damit ihre Eltern und ihren ersten Mann vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen.

Sowjets verurteilten sie zu zehn Jahren Haft

Das gelang ihr nicht, ihre Eltern wurden in Theresienstadt ermordet, ihr Mann in Ausschwitz – trotzdem fuhr Goldschlag fort, für die Nationalsozialisten zu arbeiten. Ein Sowjetisches Militärtribunal verurteilte nach dem Krieg Stella wegen ihrer Kollaboration 1946 zu zehn Jahren Zuchthaus. Sie saß in Sachsenhausen, in Torgau im Frauengefängnis in der Festung Hoheneck und in Waldheim ein. Nach ihrer Haftentlassung wurde ihr in West-Berlin 1957 ein weiterer Prozeß wegen Beihilfe zum Mord und Freiheitsberaubung in einer unbekannten Zahl von Fällen gemacht. Eine erneut zehnjährige Haftstrafe mußte sie wegen des vorangegangenen Urteils jedoch nicht verbüßen. 1994 stürzte sich Stella Goldschlag aus dem Fenster ihrer Wohnung in Freiburg im Breisgau

Über ihr Leben berichtete in Buchform erstmals Anfang der neunziger Jahre der deutsch-amerikanische Journalist Peter Wyden, ein ehemaliger Mitschüler Stella Goldschlags. Auszüge daraus in einer dreiteiligen Serie druckte – der Spiegel. Die aktualisierte Neuauflage von Wydens Biographie ist kürzlich unter dem Titel „Stella Goldschlag – Eine wahre Geschichte“ im Göttinger Steidl-Verlag erschienen.

Wie macht man nun aus einer solchen historischen eine Romanfigur? Und was für eine Handlung strickt man eigentlich darum herum? Würger hat sich für einen Liebesroman entschieden nach dem innovativen Schema: Mann trifft Frau, Mann liebt Frau, Frau liebt Mann nicht, Mann kapiert nicht, daß Frau ihn nicht liebt, sondern ausnutzt, weshalb Mann am Schluß traurig und allein wieder abfährt.

Der traurige Mann in diesem Fall ist ein junger Schweizer Maler aus wohlhabender, aber kaputter Familie – Vater edler, aber schwacher Gutsbesitzer, Mutter Nazihure –, der mitten im Zweiten Weltkrieg auf die nicht gerade naheliegende Idee kommt, nach Berlin zu fahren, um dort Malerei zu studieren. Obwohl er dies doch in Zürich, Bern oder Genf ebensogut tun könnte und auch noch ganz ohne Fliegerangriffe, Bomben, Sirenen, Essensmarken und andauernde Paßkontrollen. In Berlin angekommen trifft der junge und ziemlich tumbe Held Friedrich gleich am ersten Tag eine gewisse Kristin, die sich später als Stella Goldschlag entpuppt. Wie es das Schicksal will, darf Friedrich Kristin/Stella sofort nackt sehen, weil sie in Friedrichs Zeichenschule praktischerweise als Aktmodell arbeitet. 

Jetzt beginnen elf Monate einer bitter-süßen Beziehung, während derer Friedrich Stella quer durch Berlin hinterherhechelt, wenn sie abends in verbotenen Nachtclubs sehr mittelmäßig Jazzlieder singt und sich tagsüber nackt, breitbeinig und immer ein bißchen melancholisch in Boudoirs, Betten und Badewannen vor ihm räkelt. So manche kitschige Passagen gehen dann so wie diese: „‘Ich weiß nicht, lieber Fritz.’ Ihre Tränen fielen in die Spree. Ich hielt ihre Hand und spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. ‘Wir sind Gefährten, oder?‘ fragte sie. Gefährten. Darin lag Sinn für ein ganzes Leben.“

Friedrich lernt auch Stellas Führungsoffizier kennen, den schneidigen SS-Mann Tristan von Appen, einen Champagner trinkenden, Austern schlürfenden, Roquefort-Käse verzehrenden und stets von Windhunden umgebenen Bonvivant, der gern den tiefen Denker gibt, in Wirklichkeit aber nur ein sadistischer Vollpfosten ist.

Sehr spät, und darauf muß er auch noch von Stellas Eltern mit der Nase extra gestoßen werden, findet Friedrich natürlich schon heraus, daß Stella Jüdin ist und andere Juden systematisch ans Messer liefert, aber die vom Leser erwartete Empörung bleibt aus. Kleinlaut, lahm und zahm hört Fritz sich Stellas originelle Rechtfertigung für ihre Henkersdienste an: „Hast du mal überlegt, ob es vielleicht einen Grund gibt, warum alle die Juden hassen?“ In einem tiefsinnigen inneren Monolog überlegt er dann vor sich hin: „Ich weiß nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten.“

Wikipedia-Blütenlese historischer Ereignisse

Irgendwann muß dem Autor der moralische Relativismus, den er seinem Protagonisten mitgegeben hat, Furcht und Entsetzen eingejagt haben. Irgendwann muß er während des Schreibens zu sich selber gesagt haben: Um Gottes willen, das liest sich ja alles so, als würde ich Stellas Verrat an den Juden gutheißen und diesen ekelhaften von Appen sympathisch finden. Bei einem Spiegel-Redakteur, der grundsätzlich aufrecht und mit Haltung schreibt, ist so was natürlich vollkommen ausgeschlossen, weshalb Würger sich entschlossen hat, seinem Roman einen halbdokumentarischen Charakter zu geben. Zu diesem Zweck stellt er jedem Kapitel eine Seite im parataktischen Holzhammer-Stil voran, in dem er für jeden Monat der Handlung eine schaurig-schöne Blütenlese historischer Ereignisse präsentiert. Für den April 1942 liest sich das so: „Wegen Schwarzschlachtens wird ein Berliner Fleischhauer zum Tode durch den Strick verurteilt. Frauen werden in Deutschland zur Arbeit in Rüstungsbetrieben verpflichtet. Roger Chapman wird geboren. Benito Mussolini besucht Adolf Hitler auf dem Obersalzberg usw.“ Oder im September 1942: „Wolfgang Schäuble wird geboren. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generalfeldmarschall Wilhelm List, wird entlassen; Adolf Hitler übernimmt die Führung der Heeresgruppe.“ Das kann man machen – nur ist das nicht Literatur, sondern Wikipedia.

Dem Autor genügen diese seitenlangen Langweiligkeiten aber keineswegs, nein, er will auch noch als Historiker gelten, weshalb er, wie er im angehängten Literaturverzeichnis ordentlich nachweist, die Prozeßakten zum Fall Stella Goldschlag im Berliner Landesarchiv studiert hat und daraus jedem Kapitel ausgewählte Zeugenaussagen voranstellt. Das macht den Roman auch nicht besser, und als antifaschistisches Feigenblatt verfehlt diese literarische Flickschusterei ihren Zweck ebenfalls, aber der Leser begreift, daß dieser ganze Aufwand nötig war, um das Gewissen des Autors zu beruhigen.

Als literarisches Werk ist „Stella“ wertlos, aber in anderer Hinsicht spricht das dünne Bändchen mit seinen 200 Seiten Bände. An diesem Buch sieht man schön, was für eine Sehnsucht ein Spiegel-Redakteur gehabt haben muß, einmal wider den ewig präsenten NS-Stachel zu löcken; einmal mit dem braunen Feuer zu spielen; einmal sich im ersten Ring der Nazi-Hölle an den selbstbeschworenen Flammen zu wärmen, um dann kichernd und prustend wie eine Klosterschwester, die ihren ersten Sexfilm sieht, auszurufen: Ach, ist es nicht furchtbar sündig und geil, dieses Dritte Reich?

Feuilletonkritik an Autor und Verlag

Würgers Buch hat in den Feuilletons für heftigen Wellengang gesorgt. Für die FAZ hat sich der Hanser-Verlag mit einem Kitschroman blamiert, die Süddeutsche Zeitung sieht darin „ein Ärgernis, eine Beleidigung, ein Vergehen“ und spricht von „Selbstentblößung eines letztlich überforderten Autors“. Für die Neue Zürcher Zeitung ist es die „Schnulzenversion eines Holocaust-Romans“ und Hanser ein Verlag, der „offenbar recht offensiv beschlossen hat, mit Holocaust-Kitsch Geld zu verdienen“. Die wenigen positiven Kritiken, die es auch gibt, zum Beispiel diejenige des stets antifaschistischen Deutschlandfunks, fallen gegen die vielen Verrisse kaum ins Gewicht.

Diese ganze geheuchelte feuilletonistische Empörung hat jedoch mit ernsthafter Literaturkritik wenig zu tun. Sie zeigt nur, wie verquer, verschroben und skurril unser Verhältnis zum tagtäglich beschworenen Nationalsozialismus doch ist. Gerade weil der Nationalsozialismus in einem Adornoschen Sinne als Grundlage einer negativen Ethik herhalten muß und dies die einzige verbliebene Quelle der Ethik ist, die wir noch haben, ist der Diskurs darüber durch Tabus, Denk- und Sprechverbote inzwischen so dermaßen verzerrt, daß wir darüber nur noch reden können wie längst vergessene Sittlichkeitskomitees über Pornographie. Und nur deshalb kann einer wie Takis Würger einen NS-Porno schreiben, der dann wochenlang auf den Bestsellerlisten steht. 

Takis Würger: Stella. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019, gebunden, 224 Seiten, 22 Euro

Peter Wyden: Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte. Steidl Verlag, Göttingen 2019, gebunden, 384 Seiten, 20 Euro