© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Triumph ohne Lohn
Am 22. Mai 1919 befreiten deutsche Freikorps Riga von der roten Terrorherrschaft / Tragische Schachfiguren im politischen Interessenwettstreit
Jan von Flocken

Estland, Lettland und Litauen sowie Finnland gehörten seit dem 18. Jahrhundert zum Reich der russischen Zaren. Als sich in Europa immer mehr bürgerliche Nationalstaaten etablierten, erstarkte auch in diesen Ländern eine Unabhängigkeitsbewegung. Nach Lenins Oktoberrevolution proklamierten die Sowjets das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Daraufhin entstanden 1918 im Baltikum die ersten autonomen Volksräte mit dem Ziel, sich von Rußland zu lösen. Doch Moskau zeigte bald sein wahres Gesicht, und das bedeutete weitere nationale Unterdrückung.

Die baltischen Staaten standen Ende 1918 nach ihren Unabhängigkeitserklärungen im selben Jahr (Estland am 24. Februar, Lettland am 18. November, Litauen am 16. Februar) vor einer komplizierten politischen Gemengelage. Einerseits wurden sie von den Westalliierten unterstützt – höchst eigennützig, denn Briten und Franzosen wollten das Baltikum zum Sprungbrett für eine Intervention in Sowjetrußland ausbauen. Andererseits sahen sie sich drei Bedrohungen gegenüber. Die tödlichste Gefahr bildeten die Bolschewisten. 

Hoffnungen zunehmend auf die Deutschen gesetzt

Schon bald nach der Oktoberrevolution 1917 hatte die Rote Armee in den baltischen Provinzen und in Finnland rote Terrorregimes errichtet, die mit exemplarischer Grausamkeit gegen vermeintliche und tatsächliche Gegner wüteten. Weiterhin agierten hier die nationalrussischen „Weißgardisten“ unter General Nikolai Judenitsch und dem selbsternannten Fürsten Pawel Bermondt-Awalow. Diese Männer kämpften zwar gegen den Bolschewismus, strebten aber auch die Vorkriegsverhältnisse des Zarenreiches an und wollten den Balten allenfalls eingeschränkte Autonomie, aber keine staatliche Unabhängigkeit zugestehen.

Schließlich standen auch deutsche Truppen im Baltikum, von der Bevölkerung teils als Befreier, teils als Besatzer wahrgenommen. Zumindest ihre militärische Potenz wurde sehr bewundert, seit es den Finnen im Frühjahr 1918 gelungen war, mit Unterstützung deutscher Verbände unter General Rüdiger Graf von der Goltz die roten Besatzer aus dem Land zu treiben. „Seit der Machtergreifung des Bolschewismus in Rußland und der Errichtung einer Räteherrschaft in Estland und Lettland gewann der deutsche Vormarsch immer mehr den Charakter einer Befreiung vom bolschewistischen Terror“, so beschreibt es der Historiker Georg von Rauch in seiner „Geschichte der baltischen Staaten“. Es kam soweit, daß die einheimischen Politiker „unter Zurückstellung aller traditionellen Animositäten ihre Hoffnungen auf Deutschland setzten“.

Lettland spielte 1918/19 eine Schlüsselrolle. Das zentrale baltische Land mit seinen vier Regionen Kurland, Livland, Lettgallen und Semgallen wurde, wie auch der nördliche Nachbarstaat Estland, jahrhundertelang von einer Schicht deutschstämmiger Großgrundbesitzer regiert, die zusammen mit dem deutschen Stadtbürgertum selbst unter der Zarenherrschaft gewisse autonome Rechte verteidigen konnte. Diese „baltischen Barone“ bildeten ein vielbeneidetes und tiefverwurzeltes Feindbild der Volksmassen, was Verhandlungen nicht einfacher machte. Der lettische Regierungschef Karlis Ulmanis, ein Agrarwissenschaftler, der in den USA studiert hatte und ursprünglich Protegé der Westalliierten, war enttäuscht über das Ausbleiben ihrer Waffenhilfe und nahm, unter dem Druck der Roten Armee zunehmend machtlos geworden, schließlich Kontakt mit der deutschen Seite auf.

Kurz nach der deutschen Novemberrevolution war von der neuen Berliner Regierung unter Friedrich Ebert ein „Generalbevollmächtigter des Deutschen Reiches für die Baltischen Lande“ ernannt worden. Dieses Amt fiel an den 40jährigen August Winnig. Der gelernte Maurer und Gewerkschaftsfunktionär war ein betont patriotischer Sozialdemokrat. Ihm ging es erklärtermaßen darum, „das Deutschtum im Baltikum zu erhalten“. Als eine seiner ersten Amtshandlungen erkannte er am 26. November 1918 die eine Woche zuvor von Ulmanis proklamierte Unabhängigkeit Lettlands diplomatisch an. Dem folgte am 7. Dezember 1918 ein Vertrag mit der lettischen Regierung. Demnach sollten die Streitkräfte der jungen Lettischen Republik durch eine „Baltische Landeswehr“ mit einer Stärke von 18 lettischen, sieben deutsch-baltischen und einer russischen Kompanie vermehrt werden. Ausrüstung und Verpflegung würde zunächst das Deutsche Reich liefern. „Verantwortungslos gegenüber der deutschen Arbeiterklasse und der proletarischen Revolution in den baltischen Ländern handelte der Sozialdemokrat August Winnig, der (...) den Einsatz der konterrevolutionären deutschen Truppen vereinbarte“, zürnten noch fünfzig Jahre später zwei marxistische Geschichtsschreiber der DDR.

Die militärische Situation verschlechterte sich Ende 1918 rapide. Rote Truppen unter Joakim Wazetis begannen eine Offensive auf die Hauptstadt Riga. Schwer bedrängt, schloß die Ulmanis-Regierung am 29. Dezember ein Abkommen, wonach allen deutschen Freiwilligen, die sich aktiv am Kampf gegen den Bolschewismus beteiligten, das lettische Bürgerrecht sowie Landzuteilungen in Kurland garantiert wurden. Das zeitigte schnell Wirkung. Deutsche Idealisten wie etwa der später von den Franzosen hingerichtete Albert Leo Schlageter oder der Offizier Gerhard Roßbach versammelten sich unter den Fahnen der „Baltikumer“. Allerdings kamen auch manch zweifelhafte, sogar kriminelle Elemente. Ihnen zeigte man jedoch schnell ihre Grenzen. Plünderer und Marodeure wurden vor Standgerichte gestellt und meist sofort exekutiert.

Die strategische Lage veränderte sich wiederum. Zwar eroberten die Roten am 4. Januar 1919 die Hauptstadt Riga (JF 2/19) und fünf Tage später Mitau (Jelgava), doch dann erlahmte ihr Vormarsch. Von der Hafenstadt Libau (Liepaja) aus wurde der Gegenschlag vorbereitet. Anfang Februar 1919 übernahm General Rüdiger von der Goltz, der bereits während des Finnlandfeldzugs Erfahrungen im Kampf gegen die Sowjets gesammelt hatte, den Oberbefehl über sämtliche Einheiten in Kurland. Ihm standen Anfang März 1919 frontfähige Truppen von etwa 13.000 Mann zur Verfügung. Es handelte sich um die 1. Garde-Reserve-Division mit 5.000 Mann, vier Batterien und einer Fliegerabteilung sowie um die von Major Josef Bischoff befehligte „Eiserne Division“ in Stärke von 4.000 Mann und zehn Geschützen. Bischoff war ein äußerst erfahrener Kommandeur. Er hatte in der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika gedient, im Ersten Weltkrieg auf der Sinai-Halbinsel und in Syrien und war Träger der höchsten preußischen Kriegsauszeichnung, des Ordens „Pour le mérite“. Hinzu kam die aus Deutschbalten rekrutierte „Baltische Landeswehr“ unter Major Alfred Fletcher mit 4.500 Mann.

Letztere führte schon am 24. Februar einen Stoß auf Windau (Ventspils) und eroberte die Stadt. Am 3. März begann die allgemeine Offensive mit dem Angriff der „Eisernen Division“ auf Mitau. Die Garde-Reserve-Division griff am 9. März in nordöstlicher Richtung an, nahm am 11. März Schaulen (Šiauliai) und ging entlang der Eisenbahnverbindung Libau-Riga zum Fluß Kurländische Aa (Lielupe) vor. Die Baltische Landeswehr drang von Windau ostwärts vor, besetzte am 15. März Tuckum (Tukums) und vier Tage später Mitau. Erst am Fluß Düna (Daugava) konnten die Roten eine Verteidigungslinie aufbauen.

Regierungschef Karlis Ulmanis hatte mittlerweile wieder seine Sympathie für die Entente entdeckt und führte diskrete Verhandlungen mit Briten, Franzosen und US-Amerikanern. Deshalb kam es am 16. April zum sogenannten Putsch der Stoßtruppe, eines Bataillons der Baltischen Landeswehr unter dem Kommando des Barons Hans von Manteuffel-Szoege. Ulmanis mußte abdanken und an seiner Stelle setzte man den deutschfreundlichen Pastor und Schriftsteller Andrievs Niedra als Ministerpräsidenten ein. Von diesem Coup erfuhr General von der Goltz erst im nachhinein.

Vorherige Versprechungen wurden allesamt gebrochen

Am 22. Mai stieß die Landeswehr mit etwa 6.000 Mann, 18 Geschützen und 156 Maschinengewehren längs der Küste auf Riga vor und eroberte am selben Tag die Stadt. Nun besaßen die Rotletten nur noch einen kleinen Teil des Landes um Dünaburg (Daugavpils) in ihren Händen. Von diesem Erfolg beflügelt, rückte die verstärkte Baltische Landeswehr in Richtung auf Wenden (Cesis) vor und eroberte die Stadt am 4. Juni. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit von England finanzierten estnischen Truppen, die den Machtbereich der Deutschen und der unter ihrem Schutz stehenden Niedra-Regierung eindämmen wollten. Auch auf Ulmanis eingeschworene Letten stellten sich der Landeswehr und der inzwischen eingetroffenen Eisernen Division entgegen.

Nach schweren Kämpfen um Wenden und Ronneburg (Rauna) vom 18. bis 22. Juni mußten sich die Deutschen (es standen 4.500 gegen 7.000 Gegner) nach Süden zurückziehen, um eine Umgehung zu vermeiden. Danach konnten die Esten bis zur Landenge von Jugla nordöstlich Riga vorrücken und die Düna-Mündung durch Kriegsschiffe bedrohen. Auf Drängen des britischen Generals Sir Hubert Gough, Befehlshaber der „Alliierten Militärmission im Baltikum und Finnland“, wurde am 3. Juli ein Waffenstillstand geschlossen. Unter Punkt 2 hieß es: „Sämtliche deutschen Truppen verlassen Lettland sobald als möglich gemäß den Friedensbedingungen. Keine Vorwärtsbewegung darf inzwischen durch die deutschen Truppen in irgendeinem Teile Lettlands ausgeführt werden, außer gegen die bolschewistischen Truppen der russischen Sowjetrepublik.“ Riga mußte bis zum 5. Juli geräumt werden, am 9. kehrte Ulmanis hierher zurück.

Die in Kurland verbliebenen deutschen Soldaten wurden im Sommer und Herbst 1919 unter britischem Kommando gegen die Sowjets regelrecht verheizt. Edwin Erich Dwinger setzte aus eigenem Erleben diesen Männern in seinem Roman „Die letzten Reiter“ ein literarisches Denkmal. Als sie ihre Schuldigkeit getan hatten, verlangte die Entente am 27. September den Abzug aller deutschen Truppen aus Lettland – keine Rede mehr von Landzuteilungen oder Staatsbürgerschaft. General von der Goltz blieb als Berater bei der Armee von Bermondt-Awalow zurück. Am 16. Dezember 1919 überschritten die Einheiten des Freikorps Roßbach, eines Freiwilligenverbandes, als letzte Truppe der Baltikumer die deutsche Grenze in Ostpreußen.