© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Doppelt kassieren
Altersvorsorge: Während die Koalition über die Grundrente streitet, bleibt ein anderer Mißstand unbeachtet
Paul Rosen

Beim Thema Rente rumpelt es ordentlich in der Koalition. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat trotz Einspruch des Kanzleramts seinen Entwurf einer „Grundrente“ ohne Bedürftigkeitsprüfung in die Ressortabstimmung gegeben. Die Union pocht dagegen auf den Koalitionsvertrag und hält Heils Vorstoß für ein reines – wenn auch angesichts der Ergebnisse vom Sonntag eher erfolgloses – Wahlkampfmanöver.

Mit der staatlichen Grundrente – die Sozialdemokraten nennen sie im schönsten Werbe-Neusprech „Respektrente“ – sollen die Renten von Geringverdienern aufgestockt werden, die mindestens 35 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Allerdings beträgt laut dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung der Anteil unter den Arbeitnehmern, die diese Voraussetzung – nämlich 35 Beitragsjahre oder mehr – erfüllen und dennoch auf die Grundsicherung angewiesen sind, nur ein Prozent. Mit vier Prozent ist der Anteil der Selbständigen unter den von Altersarmut Betroffenen wesentlich höher.

„Andere können über uns nur den Kopf schütteln“

Viel mehr Rentner stünden dagegen finanziell besser da, würde die Große Koalition einen ganz anderen Mißstand beheben. Rückblick: Eine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat vor etwa eineinhalb Jahrzehnten. Für den früheren CSU-Chef Horst Seehofer war es „die schönste Nacht meines Lebens“. Für Millionen von Arbeitnehmern mit Anspruch auf eine Betriebsrente wurde die von Seehofer mit der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) erzielte nächtliche Einigung zu einem finanziellen Desaster: Sie müssen seitdem knapp 20 Prozent von ihrer zusätzlichen Altersversorgung an die Krankenkassen abdrücken – und zwar den vollen Beitrag (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) für Kranken- und Pflegeversicherung. 

Rund sechs Millionen Betroffene dürften seitdem rund 40 Milliarden Euro an die Krankenkassen gezahlt haben, obwohl die Beiträge zu den Betriebsrenten vom Nettogehalt stammen – also bereits Sozialbeiträge gezahlt wurden. Vor der Seehofer-Nacht zahlten viele Betriebsrentner den halben Satz (also nur Arbeitnehmeranteil); wer sich die Rente in einer Summe auszahlen lassen konnte, mußte sogar gar keine Beiträge zahlen. 

Seitdem sich herumgesprochen hat, daß Neurentner böse Briefe von den Krankenkassen erhalten, hat die Attraktivität der Betriebsrenten gelitten. Denn von einer Leistungszusage in Höhe von 50.000 Euro sind knapp 10.000 Euro fällig, zahlbar in 120 Monatsraten von je 83 Euro. Der in Fachkreisen als „Doppelverbeitragung“ bekanntgewordene Griff in die Geldbörsen sei ein „Stimmungskiller“ für die betriebliche Altersversorgung, erkannte denn auch Karl-Josef Laumann (CDU), Minister für Arbeit und Soziales in Nordrhein-Westfalen. 

An Versuchen, diese Doppelverbeitragung abzumildern, fehlte es nicht. Der CDU-Parteitag faßte einen entsprechenden Beschluß, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erarbeitete sogar einen Gesetzentwurf, mit dem die Beitragspflicht reduziert werden sollte. Und erst im April beschloß der Bundesrat auf Antrag Bayerns einen entsprechenden Appell, der allerdings keine rechtliche Verpflichtung auslöst, so daß das Machtwort von Kanzlerin Angela Merkel, diese Beitragsreduzierung sei „relativ kostspielig“ und gebe es daher nicht, weiter wie ein Fels in der Brandung steht. 

Es könnte für die künftigen Rentner sogar noch schlimmer kommen. Die gesetzliche Rente ist im Sinkflug; durch den Geburtenrückgang lassen sich die Rentenhöhen im Umlagesystem (Jung zahlt für Alt) nicht mehr aufrechterhalten. Die private Altersvorsorge, früher zumeist in Form von  Lebensversicherungen abgeschlossen, erodiert. Durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank lohnt sich der Abschluß von kapitalbildenden  Lebensversicherungen kaum noch; Riester-Renten haben den Ruf, kaum mehr als die eingezahlten Beträge zu bringen. Erste Lebensversicherungen haben das Neugeschäft eingestellt, zum Beispiel die Generali.  

Die Betriebsrenten als weitere Säule leiden in ihren zahlreichen Varianten in der Regel ebenfalls unter dem Nullzins. Die Doppelverbeitragung macht sie aber erst richtig unattraktiv. „Andere entwickelte Länder können über uns nur noch den Kopf schütteln“, sagt der ehemalige Chef der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung (ABA), Heribert Karch.

„Ich werde es beim Nein von Merkel nicht belassen“

Die Antwort der Politik ist verblüffend: Statt die Hinterlassenschaften der Seehoferschen Nacht wegzuräumen, könnte sogar noch draufgesattelt und der Abschluß einer betrieblichen Altersversorgung für alle Arbeitnehmer (und auch Arbeitgeber) verpflichtend werden: Freiwillig alleine werde es nicht gehen, sagte Nordrhein-Westfalens Sozialminister Laumann auf einer ABA-Tagung. Der CDU-Politiker hält eine  obligatorische Betriebsrente vor allem für Beschäftigte in den unteren Einkommensklassen für notwendig. Denn in der Einkommensklasse bis 2.500 Euro haben nicht einmal 30 Prozent noch Anspruch auf eine betriebliche Altersversorgung.

Ähnliche Töne waren auf der Tagung nach einem Bericht des Versicherungs-Journals von der Bundesregierung zu hören: „Wenn die Verbreitung nicht gelingt, dann wird Politik ungeduldig. Dabei ist der Wesenskern der betrieblichen Altersversorgung die Freiwilligkeit. Aber die Ungeduld der Politik nimmt zu“, sagte Staatssekretär Rolf Schmachtenberg vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Vorschläge, die Arbeitnehmer mit einer Zwangs-Altersversorgung zu beglücken, gibt es bereits. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen erfand die „Extra-Rente“ – eine quasi verpflichtende arbeitgebergestützte Privatvorsorge, der Arbeitnehmer allerdings noch entkommen könnten, wenn sie sechs Monate nach der erstmaligen Zahlung die Rente kündigen. An die Beseitigung des doppelten Beitrags traut sich nach Merkels Machtwort niemand mehr ran; selbst wenn CDU-Mittelstandschef Carsten Linnemann ankündigt: „Ich werde es bei dem Nein von Angela Merkel nicht belassen.“ Doch Linnemann gehört nicht zum inneren Zirkel der Koalition; sein markantes Auftreten in der Öffentlichkeit steht im Widerspruch zu seinem tatsächlichen Einfluß. 

Die größte Ungerechtigkeit bei den Betriebsrenten hat bisher kein Politiker auch nur erwähnt. Wie beschrieben, gehen von 50.000 Euro Betriebsrente knapp 10.000 Euro für die Sozialkassen drauf. Gehört der angehende Betriebsrentner jedoch zu den Besserverdienern und ist nicht bei AOK oder Barmer, sondern privat krankenversichert, dann zahlt er von seiner Betriebsrente – gar nichts.