© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Grüße aus Santiago de Cuba
Wo sind die Hühnchen?
Alessandra Garcia

Sichtlich gelangweilt schaut der quer über der Gefriertruhe liegende Verkäufer sein Gegenüber an. Nach was hatte der alte Mann mit seinen glänzenden Münzen in der Hand verlangt: Hühnchen? Von welchem Stern kommt der denn? In ganz Kuba gibt es seit Wochen keine Hühnchen mehr. Und auch keinen Reis und – wenn man den Gerüchten glauben kann – bald kein Speiseöl mehr, auch wenn davon die Regale noch voll sind.

Die aktuelle Versorgungskrise auf der sozialistischen Insel ist so groß, daß der frühere Revolutionsführer Raúl Castro, der noch immer die KP und die Armee kommandiert, die Bevölkerung auf eine neue Spezialperiode eingeschworen hat. Nur daß diesmal daran nicht wie in den 1990er Jahren der „Verrat“ der Sowjetunion schuld sei, sondern die konsequente Blockadepolitik der USA und ein möglicher Zusammenbruch Venezuelas. 

 Reis gab es nur am 30. April und am Vormittag des „Kampftages der Arbeiterklasse“.

So vermuten viele Kubaner, daß die Regierung Reis schiffsladungsweise zum hungernden Brudervolk nach Venezuela schickte. Niemand  hat jedoch eine Erklärung dafür, wohin die Hühnchen verschwunden sind. Ist doch frittiertes Pollo die Lieblingsspeise der Werktätigen.  An jeder Straßenecke ist ein Stand, man muß eigentlich nur dem Frittengeruch nachgehen. 

Wie alle Menschen in sozialistischen Ländern neigen Kubaner, zumindest wenn sie es sich irgendwie leisten können, dazu, Dinge zu horten. Ergebnis: Die Regierung hat endlich reagiert und rationiert nun Hühnchen, Reis, Eier, Bohnen, Wurst, Seife, Waschmittel und Zahnpasta. Ziel sei eine „gerechte und vernünftige“ Verteilung der knappen Produkte.

Die Händler reagierten sofort. Die Preise für Eier verdoppelten  sich auf dem freien Markt. Kaffee ist aus den staatlichen Geschäften verschwunden. Reis gab es neulich im Zentrum von Santiago de Cuba, immerhin der zweitgrößten Stadt des Landes, nur in einem einzigen Geschäft – am 30. April und am Vormittag des „Kampftages der Arbeiterklasse“. 

Derzeit werden eingefrorene Hühnchen stets dort vermutet, wo sich eine Schlange bildet. Anscheinend per Zufallsprinzip wird Geschäften mal hier und dort eine Gefriertruhe voller Pollos zugeordnet, auch wenn diese sonst nicht zum Sortiment des Ladens gehöre, und innerhalb weniger Minuten verkauft. Die triumphierend mit ihrem tropfenden Beutel durch die Straßen ziehenden Käufer signalisieren so den anderen: Es gibt doch Hühnchen, ihr wißt bloß nicht wo.