© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Pankraz,
Th. Adorno und das Loch der Demokratie

Genaues oder distanzbedingt trübes Sehen? Das fragt sich der erstaunte Leser eines Interviews, das der amerikanische Germanist und Stanford-Professor Russell Berman soeben der Neuen Zürcher Zeitung gegeben hat. Theodor W. Adorno sei der „eigentliche  Vordenker“ des gegenwärtigen „Aufstands von unten“ im demokratischen Westen gewesen, der wahre Großideologe hinter den Pariser Gelbwesten  oder den „Populisten“ in Italien. Sogar die Wahl Donald Trumps hätte ihn, wenn er sie erlebt hätte, mit Freude erfüllt.

Gelbwesten & Co. protestieren, so weiter Berman, mit Vehemenz gegen die Vergesellschaftung aller Lebensbereiche, die sie als Bevormundung empfinden. „Ich meine damit die Kollektivierung bzw. Monopolisierung der Wirtschaft, die Verrechtlichung des alltäglichen Lebens und die Politisierung des Privaten, kurzum: das Schrumpfen nichtverwalteter Lebenszonen. Erstmals seit langem macht sich eine heftige Reaktion der Bürger gegen diese verwaltete Welt bemerkbar.“

Und weiter: „Es ist die immanente Tendenz des modernen Staates, sich immer weiter auszudehnen, sofern ihm von Bürgerseite kein Widerstand erwächst. Die Bürokraten in staatlicher Besoldung streben naturgemäß nach mehr Macht, und ein Teil der meinungsführenden politischen Eliten ruft reflexhaft nach mehr Staat, wenn es darum geht, Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu bewältigen (…) Das ist eine Logik der Bevormundung, die moderne Staaten perfektionieren wollen. Endstation: chinesischer Überwachungsstaat. Adorno wußte um diese Tendenz.“


Prächtige Sätze, findet Pankraz, außer dem letzten. War es denn wirklich Adorno, der jene  Art von „Vergesellschaftung“ als erster umfassend kritisiert und den Protest dagegen präzise vorausgesagt hat? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Gewiß, es gibt den zusammen mit Max Horkheimer 1947 in Amsterdam herausgebrachten Band „Dialektik der Aufklärung“, in dem gezeigt wird, daß diese letzten Endes auf nichts als auf Herrschaft aus ist, auf Herrschaft über die Natur und über andere Menschen, daß sie ein Zwangssystem installiert, mit dem verglichen alle früheren, unaufgeklärten Herrschaften das reinste Reich der Freiheit waren. 

Schärfer haben es Schopenhauer, Heidegger oder Klages auch nicht gesagt. Nur, sie haben es weitaus besser gesagt, sie gaben den Widerstandskräften gegen die lediglich instrumentelle Vernunft ausführlich Raum: dem Leben, der Seele, dem Karma, der Tradition, der Heimat, der Nation … Bei Horkheimer und Adorno blieb das alles ausgeblendet oder wurde gar perhorresziert. Sie hatten einzig und allein ihre „Kritik“, und die hatte nichts hinter sich als ein schwarzes Loch, allenfalls noch das alttestamentarische Gebot, daß man sich kein Bildnis machen darf von Gott, den Adorno offenbar glattweg mit Kritik in eins setzte.

Nirgends in seinem Text auch nur die Spur eines Hinweises, was man als sogenannter Normalbürger tun oder fordern könnte, um der wüsten Gleichmacherei und dem absoluten Herrschaftsanspruch der nackten „Aufklärung“ entgegenzutreten, Freiheitsräume zu erweitern, wirklich „wählen“ zu können. Und dabei ist das Wahlrecht zwar der zentrale, doch längst nicht der wichtigste Aspekt demokratischer Verfaßtheit.

Längst hat man sich angewöhnt, nur dann von einer „echten Demokratie“ zu sprechen, wenn darüber hinaus der ganze Kanon der sogenannten Menschen- und Bürgerrechte gewährt wird, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs-, Presse-, Informations- und Lehrfreiheit, Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Garantie des Eigentums, Gleichheit vor dem Gesetz, Garantie gegen ungerechtfertigte Verhaftung …

Was aber, wenn ein Staat das Wahlrecht verweigert oder suspendiert, das Parlament in die Ferien schickt, den ganzen übrigen Katalog der Menschenrechte jedoch weitgehend unangetastet läßt und sogar ausdrücklich garantiert? Nur blinde Eiferer würden dann leugnen, daß hier zumindest „ein bißchen“ Demokratie praktiziert wird.


Andererseits kommt es durchaus vor, daß Staaten mit dem ganzen Instrumentarium freier Wahlen und eines ordentlichen Parlamentarismus prunken, kraft Mehrheitswillen indessen immer mehr Menschenrechte einschränken oder gar abschaffen. Parlamentarische Mehrheiten vergreifen sich, wie auch hierzulande inzwischen jeder weiß, immer wieder gern am Recht auf Eigentum oder an der Pressefreiheit. Man muß dann wohl konstatieren, daß in dem betreffenden Staat „ein bißchen“ Demokratie verlorengegangen ist

Klar wird, daß eine Dialektik der Aufklärung à la Horkheimer/Adorno durchaus in eine Dialektik der Demokratie einmünden kann, daß also auch diese bei Mißachtung der sie umgebenden Lebensumstände nur allzu leicht in ihr Gegenteil, nämlich in nackte Barbarei, umschlägt. Ja, auch die Demokratie kann, formal auf die Spitze getrieben, zur Diktatur und Despotie werden. Die „reine Demokratie“, der totale Vollzug des Volks- oder Mehrheitswillens, stellt unter Umständen sämtliche Menschen- und Bürgerrechte zur Disposition, degradiert sie zur bloßen Funktion medial-politischer Entscheidungen.

Oftmals geschieht dies im substaatlichen Bereich der Gesellschaft, in Schulen, Vereinen und Parteien, während der Staat selbst „bloß zusieht“. Zusammenballungen von Gutmenschen oder selbsternannte Exekutoren der angeblichen volonté générale machen sich auf, um überall „Demokratie herzustellen“. In alten 68er-Zeiten wurden immer wieder komplizierte, nach Leistung hierarchisierte Gebilde wie Universitätsseminare, Kunstvereine oder Theater lärmenden Verfahrensdebatten und gleichmacherischen Abstimmungen unterworfen und dadurch am Boden zerstört.

Summa summarum: Mit Hilfe Adornos läßt sich das Loch, das sich in der Demokratie zwischen oben und unten aufgetan hat, gewiß nicht füllen. Ganze neue Führungsschichten müssen ins Werk treten, sie brauchen nicht extra Propheten.