© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Weder hungernde Klassenkämpfer noch Maschinenstürmer
Der Aufstand der schlesischen Weber vor 175 Jahren und seine steile Karriere als deutscher Mythos
Dirk Glaser

Montagbend am 3. Juni 1844. In Peterswaldau, einem stattlichen Dorf von 4.000 Einwohnern am Fuß des schlesischen Eulengebirges, beschließt eine Handvoll Weberburschen, ein Zeichen gegen Ausbeutung zu setzen. Sie marschieren deswegen vor die Villa des Großunternehmers Ernst Friedrich Zwanziger, dem sie das gruselige Protestlied vom „Blutgericht“ zu Gehör bringen, das ihn und seinesgleichen als „Henker“, „Schurken“ und „Satansbrut“ schmäht. Der mit seinem Reichtum provozierend protzende Fabrikant, der über 5.000 zumeist in Heimarbeit tätige, formal selbständige Weber, Spinner, Spuler und Rauher beschäftigt, ist auf das Ständchen vorbereitet. Sein Werkschutz vertreibt die Sänger und greift einen von ihnen, der dann im Polizeigefängnis landet. 

Nur einer von vielen sozialen Konflikten

Zwanzigers robuste Reaktion ist der Schlag des Schmetterlingsflügels, der einen Sturm entfacht. Am 4. Juni ziehen die Weber, nun schon ein paar hundert, wieder zum Fabrikgelände, damit der reiche „Schurke“ die Freilassung ihres Kollegen erwirkt. Und über den von ihm gezahlten Niedriglohn will man bei dieser Gelegenheit auch gleich verhandeln. Doch die Aktion läuft gründlich aus dem Ruder. Zwanziger samt Familie gelingt die Flucht, was den Zorn der Weber erregt, die die Villa, Geschäftsräume und Warenlager verwüsten. Ein Zerstörungswerk, an dem sich bis Mitternacht Heimarbeiter aus benachbarten Ortschaften sukzessive beteiligen. 

Am 5. Juni greift die Revolte auf das nahe Fabrikdorf Langenbielau über, wo an die 1.000 Wutbürger das Inventar der Fabrikanlagen, ausgenommen ausgerechnet die Maschinenhalle, und der Wohnhäuser der Brüder Dierig kurz und klein schlagen. Bis Militär eingreift und zwei Salven in die Menge feuert. 11 Tote und 26 Verwundete bleiben auf dem Platz. Anschließend werden 112 Aufrührer verhaftet, von denen das Oberlandesgericht in Breslau drei Monate später 80 zu relativ milden Zuchthausstrafen verurteilt.

Gewaltausbrüche dieser Art begleiten die Frühindustrialisierung Europas. Im manchesterkapitalistischen England sind solche Eruptionen fast an der Tagesordnung. Auch in den deutschen Staaten zieht der allmähliche Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft häßliche Verwerfungen nach sich, die zwischen 1815 und 1848 infolge von Bevölkerungsexplosion, Mißernten, Absatzkrisen und chaotischen Nachwirkungen der zu Gewerbefreiheit und Bauernbefreiung führenden preußischen Reformen von 1807 die Lage „eigentumsloser Massen“ derart verschlechtert, daß sich lokale Revolten häufen. 

Wenn ein Rumor schlesischer Weber vor diesem Hintergrund nur einer von vielen sozialen Konflikten der Vormärz-ära ist, warum hat sich gerade dieses historische Ereignis über Generationen hinweg so tief im kollektiven Gedächtnis festgesetzt, daß es zum „Mythos“ geriet?

Christina von Hodenberg, die heute das Deutsche Historische Institut in London leitet, hat in den 1990ern versucht, darauf eine Antwort zu geben („Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos“, 1997). Wobei die Geschichtspolitik der SED der westdeutschen Historikerin offenbar ein Schlüsselerlebnis in Sachen Mythisierung und Ideologisierung bescherte. 

Akten entmythologisieren die Klassenkampf-Deutung

Denn die Akten der preußischen Verwaltung und Justiz, aus denen sich der Ablauf der Geschehnisse im Eulengebirge minutiös rekonstruieren läßt, befanden sich bis zum Mauerfall kriegsbedingt im Zentralen Archiv der DDR in Merseburg, wo sie aber Forschern aus dem „nicht-sozialistischen Ausland“ wie von Hodenberg nicht vorgelegt wurden. Weil man sich durch Aktenrecherche, zumal von „Klassenfeinden“, eine schöne Geschichte nicht versauen lassen wollte. Eben jenen von Karl Marx höchstselbst begründeten „Mythos“, demzufolge mit dem Weberprotest der Klassenkampf des Proletariats gegen Aristokratie und Bourgeoisie endlich auch in Deutschland begonnen habe. 

Jürgen Kuczynski, Nestor der SED-Historikerschaft, pumpte die Deutung des Erzvaters in unkritischer Beflissenheit sogar zum Stereotyp der „ersten proletarischen Klassenschlacht in der deutschen Geschichte“ auf. So nahmen die Weber einen prominenten Platz in der kollektive Identität stiftenden Traditionskonstruktion des Arbeiter- und Bauernstaates ein. 

Als die Akten nach 1990 wieder an ihren Ursprungsort, das Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem zurückgekehrt waren, wo von Hodenberg sie ungehindert auswertete, wurde ihr klar, warum der Weberaufstand zwar eine so wichtige Rolle im volkspädagogisch auf allen Ebenen vermittelten, ihre Herrschaft legitimierenden SED-Geschichtsbild gespielt hatte, aber jenseits dieser Indoktrination so gut wie keine empirische Forschung zum Thema stattfand, obwohl man in Merseburg vierzig Jahre lang auf den Akten hockte. Deren Studium hätte nämlich Marxens Meistererzählung vom Klassenkampf entmythologisiert, damit unvermeidlich auch das Schema historisch-materialistischer Geschichtsdeutung und letztlich des sozialistischen Weltbildes desavouiert– zumindest partiell.

Was die Akten von Hodenberg erzählten, kollidiert vielfach mit den kanonischen Glaubenssätzen der sich notorisch für Linien- und gegen Quellentreue entscheidenden marxistisch-leninistischen Historiographie. Denn zum einen waren die Weber keine Proletarier, sondern selbständige, zunftfreie Handwerker. Folglich fehlte es ihnen an proletarischem Klassenbewußtsein und am Willen, das kapitalistische System abzuschaffen. Es existierte nicht einmal eine geschlossene Front der Klassensolidarität. 

Denn der Protest richtete sich nicht gegen die Brüder Dierig, weil sie wie Zwanziger zu wenig zahlten, sondern weil sie auswärtige Weber aus Glatz anheuerten, die sich am 5. Juni bei der Verteidigung von deren Fabriken gegen ihre vermeintlichen Langenbielauer „Klassenbrüder“ engagierten. Überdies sahen sich die Rebellen keinem homogen bourgeoisen Klassenfeind gegenüber. Blieben doch die Fabriken der Unternehmer, die sie stets absprache-gemäß entlohnt hatten, von Vandalismus und Plünderung verschont. Nicht Umsturz und klassenlose Gesellschaft hatten die Weber im Sinn, sondern Wiederherstellung als gerecht empfundener ständischer, paternalistischer Verhältnisse. „Als wesentliche Triebkraft des Aufruhrs von 1844“, so das Fazit von Hodenbergs, „wird die Mentalität der Selbständigkeit erkennbar“. Sie ist geeignet, die bis heute dominanten, verfälschenden Deutungsmotive „Klassenkampf, “„Hunger“, „Verzweiflung“ und „Maschinenhaß“ abzulösen.

Hauptmann, Kollwitz und die „Hungerrevolte“

Mit den drei letztgenannten Motiven räumt von Hodenberg die bürgerlichen „Weber“-Mythen ab. Schon die vormärzliche Rezeptionsgeschichte reduzierte, um das Mitleid zu steigern und so die Spendenfreudigkeit städtischer Besserverdiener anzuregen, den Aufstand auf eine Hungerrevolte. Die beiden Kunstwerke, die zu wilhelminischer Zeit mit einer schier phantastischen Breitenwirkung, auch international, den Aufstand popularisierten, Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die Weber“ (1892) und Käthe Kollwitz’ Bilderzyklus „Ein Weberaustand“ (1897/98), schließen an diese Deutungstradition an. 

1844, als der Aufstand sofort als Initialzündung einer breiten Diskussion über die „soziale Frage“ wirkte, traute das politisch sonst machtlose Bürgertum sich deren Lösung zu. Nicht jedoch die für inkompetent gehaltene preußische Monarchie, die auf eine Mischung aus Repression und Marktliberalismus setzte. So glaubte der das Massenelend ignorierende schlesische Oberpräsident Friedrich Theodor von Merckel bis zur seiner ungnädigen Entlassung durch Friedrich Wilhelm IV. fest an Adam Smiths „Heilkraft der volkswirtschaftlichen Naturgesetze, die durch Angebot und Nachfrage alles Leid von selber aufheben müßten“, wie Heinrich von Treitschke höhnte. In den 1890ern erzielten Hauptmann und Kollwitz mit ihren krassen, an Mitleid appellierenden, den „Hunger“ maßlos übertreibenden Elendsszenarien deshalb eine ähnliche Resonanz, weil ihre Kunst, bei aller grassierenden Furcht vor dem sozialdemokratischen „Kladderadatsch“, das Vertrauen in die solche Katastrophen abwendende Zaubermacht bürgerlicher Sozialreform stärkte. 

Nach dem Ende der NS-Herrschaft, die mit der „Volksgemeinschaft“ ihren eigenen sozialen Mythos schuf, so daß die Rezeptionsgeschichte der „Weber“ ein zwölfjähriges schwarzes Loch aufweist, begann im bundesrepublikanischen „Erinnerungsraum“ die Entpolitisierung des Aufstandes. Einerseits um sich von dessen marxistischer Vereinnahmung im SED-Staat abzugrenzen, andererseits um die für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nötige soziale Harmonie nicht mit der im historischen Gewand von 1844 gestellten „Klassenfrage“ zu belasten.

Was die Weber durchlitten, spiegelt in westdeutschen Interpretationen mithin „ewige“ menschliche Tragik und „Schicksal“. Was mit historischer Wahrheit so wenig zu tun hatte wie der in den 1970ern aufgekommene „Mythos vom Maschinensturm“, der angesichts von „Grenzen des Wachstums“ die Weber zu ersten Opfern technischen Fortschritts und neoliberaler Profitgier stilisierte. Obwohl die forcierte Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges diesem von SPD und DGB im Namen der Weber gegen den Arbeitsplatzexport in Billiglohnzonen organisierten „kulturellen Widerstand“ neue Aktualität verschuf, arrangierte sich die apolitische Linke mit ihr als „Schicksal“ und verabschiedete sich vom Weber-Mythos. 

Der werde sich fortentwickeln, so war sich Christina von Hodenberg noch sicher, solange eine deutsche Gesellschaft sich im Medium der Geschichte mit der Selbstaufklärung über die soziale Frage befasse. Eine Prognose, die nichts vom Ausmaß der Geschichtsblindheit des bundesrepublikanischen Homo stultus ahnte.