© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Retten, nicht reden
Der Kirchenhistoriker Michael Hesemann fordert ein gerechteres Urteil über Papst Pius XII.
Mathias von Gersdorff

Die heute herrschende Vorstellung, wie ein Papst sein Amt ausführen sollte, wurde stark von Johannes Paul II. (1978 bis 2005) geprägt. Der Pontifex aus Polen reiste unermüdlich durch die ganze Welt, schrieb unzählige Texte, sprach Tausende Menschen selig oder heilig, mischte sich ständig auch in tagespolitische Themen ein. Er prägte das Bild des omnipräsenten und hyperaktiven Papstes, der weit über die Grenzen der katholischen Kirche bekannt ist. Praktisch auch alle Nicht-Katholiken kannten Papst Johannes Paul II., während viele Katholiken kaum den Namen ihres Ortsbischofs kennen. Durch das Internet hat sich dieses Phänomen noch verstärkt. In Sekundenschnelle erfährt man, was Papst Franziskus zu diesem und jenem sagt. In den sozialen Netzwerken erscheinen Videos seiner Auftritte in Echtzeit. In den Kommentarspalten posten Menschen sofort, was ihnen dazu in den Sinn kommt.

Viele können sich unter diesen Umständen gar nicht mehr vorstellen, daß noch bis Ende der 1950er Jahre die Päpste kaum den Vatikan verließen und ihre Texte erst lange nach der Veröffentlichung des Originals übersetzt wurden. Selbst die Adressaten wichtiger Papstschreiben, wie etwa Enzykliken, waren nicht alle Gläubige, sondern nur die Bischöfe.

Mit dem Buch von Michael Hesemann, „Der Papst und der Holocaust“, taucht man in genau diese Zeit ein und erlebt hautnah das Wirken eines Papstes, der fernab des Rampenlichts stand. Es gibt viele Bücher über Päpste, die ihr Denken und ihr Wirken beschreiben, aber nicht so detailliert und auf ein Thema fokussiert wie Hesemanns Buch.

Der eigentliche Anlaß zum Schreiben von „Der Papst und der Holocaust“ ist aber ein anderer: Papst Pius XII. wird seit Anfang der 1960er Jahre kritisiert, weil er zum Holocaust geschwiegen habe. Eine öffentliche Anprangerung des Massenmordes an den Juden hätte viele Leben retten können. Mit seiner moralischen Autorität hätte er eine weltweite Reaktion provoziert, die die Deutschen zum Einlenken gezwungen hätte, so das Kalkül.

Auf diesen Vorwurf geht Hesemann nicht mit neuen Gegenargumenten ein. Er schreibt, eine öffentliche Verurteilung hätten viele nicht geglaubt, man hätte sie als Propaganda der Alliierten, vom Papst wiedergegeben, abgeurteilt. Zudem hatten öffentliche Interventionen seitens der Kirche, wie etwa der Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe vom 11. Juli 1942, genau das Gegenteil bewirkt. Die Deportation nach Auschwitz wurde beschleunigt und auf die zum katholischen Glauben konvertierten Juden ausgeweitet.

Das Hauptanliegen von Hesemanns Buch ist aber die umfassende Darstellung aller Rettungsaktionen, die der Papst initiiert oder veranlaßt hat. Für sein Buch hatte der Autor Zugang zu bisher nicht veröffentlichten Dokumenten im Geheimarchiv des Vatikans, die noch deutlicher das Bemühen des Papstes zur Rettung der Juden dokumentieren. Nach dem Motto „Retten – nicht reden“ gab sich der Papst einer geradezu fieberhaften Aktivität hin.

Michael Hesemann sagt offen, daß er für Pius XII. Partei ergreift. Das Buch liest sich tatsächlich streckenweise wie eine Verteidigungsschrift. Doch weder ist das Buch eine getarnte Hagiographie noch eine staubtrockene Studie. Auf jeder Seite liest man die düstere und erdrückende Atmosphäre dieser Zeit heraus; die Anspannung der Akteure, die unter Todesgefahr die Drähte im Hintergrund ziehen mußten; das Treffen von Entscheidungen in einer Situation bruchstückhafter oder gar falscher Informationen.

Labyrinth von Verbrechen, Verrat, Lüge, Ungewißheit

Das Buch liest sich fast wie ein Roman, der in der Ich-Form geschrieben wurde. Der Leser fühlt sich eingeengt in einem Labyrinth von Verbrechen, Verrat, Lüge, Ungewißheit. Wie handelt man, wenn sich über einen ganzen Kontinent Dunkelheit legt und selbst elementare Regeln der Zivilisation nicht mehr gelten. In diesem Kontext regierte Papst Pius XII. seine Kirche und organisierte die Rettungsaktionen für die Juden.

Für Leser, die das Glück hatten, nicht in einer Diktatur leben zu müssen, empfiehlt sich die Lektüre von „Der Papst und der Holocaust“. Wir leben in einer Zeit aufsteigender Religionsverfolgung und zunehmender Verletzung elementarer Menschenrechte. Dieses Buch hilft, sich psychologisch in eine solche Situation hineinzufinden.

Michael Hesemann: Der Papst und der Holocaust: Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan. Verlag Langen-Müller, München 2018, gebunden, 448 Seiten, Abbildungen, 28 Euro