© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Verzweifelte Zeiten
Syrien: Der Kampf um Idlib wird mit harten Bandagen geführt / Annäherung von Ankara und Moskau erwartet
Marc Zoellner

Ganze zwei Wochen hielt die Syrisch-Arabische Armee (SAA) Kafr Nabuda, als die Gegenoffensive begann: Hunderte schwer bewaffnete Milizionäre erstürmten am 22. Mai im Schutz der Nacht die Kleinstadt am südlichen Rand der Provinz Idlib, lieferten sich von Artilleriefeuer begleitete heftige Gefechte mit den Regierungstruppen – und errangen noch im Morgengrauen ihren ersten größeren Sieg über die syrischen Regierungstruppen seit Beginn des Waffenstillstandsabkommens vom September 2018.

Ungewöhnlich war dabei nicht nur die Schlagkraft der Rebellen, sondern auch ihre Aufstellung. Denn eigentlich sind sich die „Hai‘at Tahrir asch-Scham“ (HTS), der syrische Flügel der Terrororganisation al-Qaida, und die von der Türkei unterstützte moderat-islamische „Nationale Befreiungsfront“ (NLF) spinnefeind. Beide ringen seit Jahren politisch, seit diesem Januar auch militärisch um die Kontrolle der Provinz Idlib, der letzten verbliebenen Hochburg der Rebellen im Bürgerkrieg gegen Syriens Machthaber Baschar al-Assad. 

Russische Kampfflieger decken türkischen Rückzug

„Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen“, rechtfertigte Haitham Afisi, einer der führenden Kommandeure der NLF, das Zweckbündnis Ende April im Gespräch mit dem Nachrichtensender Al Jazeera. 

Noch im September vergangenen Jahres hatten Ankara und Rußland, der wichtigste militärische Alliierte der syrischen Regierung, in Sotschi einen Waffenstillstand ausgehandelt.  Moskau verpflichtete sich auf die Einstellung seiner Luftangriffe auf Idlib, Ankara auf die Entwaffnung der HTS.

Letztere schlug fehl – systematisch verdrängte die HTS die Verbände der NLF aus den Städten und flog gleichzeitig Drohnenangriffe auf syrische Stellungen außerhalb der Demarkationslinie sowie auf einen russischen Luftwaffenstützpunkt nördlich der syrischen Hafenstadt Latakia. Die Besetzung Kafr Nabudas durch die SAA am 8. Mai begründete Damaskus als Reaktion auf diese Angriffe; die Offensive der syrischen Armee läutete gleichzeitig das Ende des Sotschi-Abkommens ein. Seitdem bombardieren syrische, russische und iranische Kampfflugzeuge Idlib im Tagesrhythmus.

Als Ende Mai ein türkischer Stützpunkt nahe Idlib aufgrund von Feindbeschuß geräumt werden mußte, deckten auch hier russische Kampfflieger den Rückzug der Türken. Für rund 2,5 Milliarden US-Dollar hatte Ankara von Moskau vier Abwehrsysteme vom Typ S-400 erworben. Deren Auslieferung wurde nun von Juli auf Juni vorgezogen. „Nur wegen Idlib mag sich Rußland seine Beziehungen mit der Türkei sicher nicht verderben“, erklärte Kirill Semenov, Nahostexperte der Moskauer Denkfabrik Russian International Affairs Council, der Haaretz. Auch Analysten der Istanbuler Marmara-Universität zeigen sich überzeugt davon, daß der Gordische Knoten um Idlib zerschlagen wird: Rußland werde der Türkei gestatten, die kurdische Exklave von Tel Rifat zu besetzen, die Türkei im Gegenzug Damaskus zugestehen, militärisch zumindest gegen die Anhänger der HTS vorzugehen.