© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Private Retter unter Druck
Migration über das Mittelmeer: Die Arbeit von Sea-Watch & Co. läuft nicht mehr so rund wie früher
Robin Simmons

Freundlich kamen die Piloten des Aufklärungsflugzeugs Moonbird von der deutschen NGO Sea-Watch nicht rüber: „Vos Triton. Hier ist Such- und Rettungsflugzeug Moonbird. Da ist eine Person im Wasser. Die sogenannte libysche Küstenwache kann ihn nicht retten. [...]  Wir nehmen die Situation auf. [...] Ich muß Ihnen mitteilen, daß Sie an einer internationalen illegalen Zurückweisung nach Libyen teilnehmen, wenn Sie die Person, die sie jetzt an Bord haben, an die sogenannte libysche Küstenwache übergeben. Es gibt ein Non-Refoulement-Gebot. [...] Wenn Sie ihn jetzt zurückgeben, dann sind Sie als Kapitän verantwortlich.“ 

So lauteten am 11. Mai die ersten Worte des Piloten der Moonbird. In einem von Sea-Watch veröffentlichten Video forderte die Crew des Flugzeugs über Funk das unter der Gibraltar-Flagge fahrende Schiff Vos Triton dazu auf, einen Migranten zu retten, der sich vor der Küste Nordafrikas ins Meer stürzte, um einem libyschen Patrouillenboot zu entkommen, das gerade ein überfülltes Boot aufbringen wollte.

IOM beklagt „risikoreiche Migrationsentscheidungen“

Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Abteilung Libyen, ist dieser Vorfall einer von vielen. Besonders alarmierend sei angesichts der Kämpfe um Tripolis die Situation für über 3.300 Migranten, darunter Kinder und Schwangere. 

Nicht nur diese Registrierten versuchten nun vermehrt die illegale Überfahrt. So kenterte am 10. Mai ein Migrantenboot vor der libyschen Küste vor Zwara, bei dem 59 Menschen ums Leben kamen. Damit, so die IOM, betrage die Zahl der Todesopfer auf der Zentralen Mittelmeerroute in diesem Jahr 316 und auf allen Mittelmeerrouten 502. Seit Beginn der Zusammenstöße wurden 871 Migranten nach Libyen zurückgeführt und inhaftiert, so daß die Gesamtzahl der nach Libyen zurückgeführten Migranten in diesem Jahr 1.930 betrage. 

Die IOM, eine zwischenstaatliche Organisation im UN-System, zeigt sich vor allem besorgt über die Rückkehr von Migranten in einen unsicheren Hafen und ihre Unterbringung in oft überfüllten Haftanstalten, in denen die Bedingungen laut IOM „nicht akzeptabel“ seien.

 Gerade IOM Tunesien berichtete, daß eine weitere Tragödie am 10. Mai etwa 60 Kilometer von den tunesischen Gewässern entfernt begann, als ein Schiff mit 75 illegalen Migranten, hauptsächlich aus Bangladesch, versuchte, Europa zu erreichen. In der Nacht des 9. Mai hätten tunesische Fischer bereits 16 Menschen aus dem überfüllten Schiff retten können. Später fanden tunesische Marineeinheiten drei Leichen. 

Von den Geretteten sind 14 Bangladescher (darunter zwei unbegleitete Minderjährige), einer ist Ägypter, einer Marokkaner. Diejenigen, die nicht ins Krankenhaus eingeliefert wurden, wurden vom tunesischen Roten Halbmond aufgenommen. 

Tags darauf retteten tunesische Fischer 69 Migranten, darunter Marokkaner, Eritreer, Somalier, Bangladescher und ein Ägypter. Unter ihnen waren vier Frauen und mindestens 25 Minderjährige, darunter Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren. Die 69 sollen Libyen am 7. Mai Libyen verlassen haben.  

Vom 9. bis 12. Mai hatten tunesische Küstenwache- und Marineeinheiten Präventivmaßnahmen durchgeführt, die Versuche an illegalen Überfahrten mit mehr als 100 Migranten zu Beginn der Saison verhindern konnten. „Es ist bedauerlich, wie Migranten im Mittelmeerraum weiterhin sterben, um gefährliche Reisen zu unternehmen“, sagte der Leiter der Mission der IOM Bangladesch, Giorgi Gigauri. „Mangelndes Wissen über sichere Migration, Gewalt in den Gastländern und der große Einfluß von Zwischenhändlern führen dazu, daß gerade Bangladescher risikoreiche Migrationsentscheidungen“ träfen.   

Vorgehen der Niederlande überrascht Aktivisten   

Dies sehen die Aktivisten von Sea-Watch anders. Ursächlich für das Sterben vor der Küste Tunesiens sei die „tödliche EU-Migrationspolitik“. Parallel dazu werfen die Aktivisten der EU und einzelnen EU-Staaten erneut Vernachlässigung, Fehlhandeln und vor allem die Kriminalisierung der privaten Seenotretter vor. 

Anfang April hatte die niederländische Regierung strengere Regeln und Sicherheitsanforderungen für Schiffe eingeführt, die zur Rettung von Asylbewerbern und illegalen Migranten aus dem Meer eingesetzt werden.  Die neuen Regeln gelten speziell für alle Schiffe von „Organisationen mit idealistischen Zielen“, die wie die Sea-Watch 3 unter niederländischer Flagge fahren, betonte Ministerin Cora van Nieuwenhuizen in einem Brief an das Parlament. Bislang, so die Angaben der NL-Times, konnten diese Schiffe als Sportboot registriert werden, was bedeutete, daß sie weniger Anforderungen erfüllen mußten als andere Seeschiffe. Aber als Folge davon wurde „dem Risikoprofil solcher Schiffe nicht ausreichend Rechnung getragen“. Die Sea-Watch 3 durfte den Hafen Marseille, in dem sie lag, nicht mehr verlassen.  

Deren Betreiber kritisierten die neuen Regeln. Der Politikwechsel sei hastig und ohne Übergangsfrist für Sea Watch umgesetzt worden. „Es ist unverständlich, daß unser eigener Flaggenstaat versucht, unsere Arbeit zu untergraben, während wir immer wieder zeigen, daß wir über ein sehr gut ausgestattetes Rettungsschiff verfügen, das über die vorgeschriebenen Sicherheitsstandards hinausgeht“, sagte Sea-Watch Präsident Johannes Bayer. 

„Sea-Watch 1:0 vs Niederlande!“ jubelte Sea-Watch am 7. Mai. Denn ein Gericht in Den Haag hatte gerade die neuen Auflagen bis zum 15. August ausgesetzt. Das Ministerium müsse bis dahin deutlich machen, welche Anforderungen das Schiff zu erfüllen habe, hieß es im Urteil.

Die Sea-Watch 3 verließ den Hafen von Marseille. Am 15. Mai nahm das Schiff im Mittelmeer 65 Migranten an Bord, die sie circa 30 nautische Meilen von der libyschen Küste in einem anscheinend hilfsbedürftigen Zustand, mit Unterstützung des zweiten Aufklärungsflugzeugs Colibri, das von französischen Piloten geflogen wird, erspäht hatten. 

Daraufhin machte sich die Sea-Watch 3 auf die Suche nach einem Hafen, nachdem die Niederlande, Italien und Malta ihnen die Aufnahme verweigerten. Dazu klagte Sea-Watch via Twitter: „Keine der Behörden ist bereit, ihrer Pflicht nachzukommen. Wieder einmal werden wir allein gelassen.“ Inzwischen, vier Tage nach der Rettung der 65, durfte Sea-Watch die Migranten doch nach Italien auf die Insel Lampedusa bringen. Nachdem aber alle Migranten die Sea-Watch 3 verlassen durften, wurde das Schiff von den italienischen Behörden beschlagnahmt und festgesetzt. Nun plant der italienische Innenminister Matteo Salvini (Lega) eine Notverordnung gegen illegale Einwanderung. Womöglich wurde diese Verordnung bereits letzte Woche dem Kabinett vorgelegt. 

Luftaufklärung ersetzt Arbeit auf dem Wasser   

Salvinis Notverordnung sieht vor, daß jedes Schiff beziehungsweise deren Verantwortliche, die ohne Erlaubnis Migranten nach Italien verschiffen, für jeden an Land gebrachten Flüchtling 3.500 bis 5.500 Euro Strafe zahlen müssen. Zudem meldete die italienische Nachrichtenagentur Ansa, daß  die örtliche Staatsanwaltschaft gegen den Kapitän des Rettungsschiffes  wegen rechtswidriger Unterstützung illegaler Einwanderung ermittle.

„Die Sea-Watch 3 ist wieder frei!“ jubelte dann die Sea-Watch-Crew erneut am 1. Juni. Denn die Beschlagnahme des Schiffes wurde aufgehoben. Dennoch, so die italienischen Behörden, werde weiter gegen Kapitän Arturo Centore ermittelt.

Bei einem Solidariätsbesuch am Sonntag ergriff der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Heinrich Bedford-Strohm Partei für die Sea-Watch-Mannschaft. „Seenotrettung im Mittelmeer ist in diesen Tagen dringender denn je. Als Kirchen in Europa appellieren wir daher nicht nur an Italien, die zivilen Retter in ihrer Arbeit nicht zu behindern“, zitiert der evangelische Pressedienst Bedford-Strohm. Seenotrettung sei selbstverständlich auch eine staatliche Aufgabe, sagte er. Daher sei es nicht hinzunehmen, daß die EU-Mission Sophia eingestellt wurde. „An ihre Stelle muß eine neue Mission treten“, forderte der oberste Repräsentant der deutschen Protestanten.

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist einer der Hauptförderer von Sea-Watch. Sie unterstützte  bereits 2017 die Anschaffung des Flugzeugs Moonbird mit 100.000 Euro. Zudem bestätigte Sea-Watch, daß durch das entgegennehmen einer großzügigen Förderzusage der EKD für die Jahre 2018 bis einschließlich 2020 die wesentlichen Kosten des Projektes gesichert seien. Des weiteren kollaboriert Sea-Watch seit dem Frühjahr 2017 mit der Schweizer humanitären Piloteninitiative, HPI, um deren zivile Luftaufklärungsmission über dem Mittelmeer zu ermöglichen. Laut Sea-Watch fallen hier monatliche Kosten von circa 34.000 Euro an – Kauf des Flugzeugs nicht eingerechnet – sowie die Kosten pro Flug, welche alle paar Tage stattfinden, die im Schnitt 2.500 Euro betragen. 

„Wir werden so schnell wie möglich in die Search-and-Rescue-Zone zurückkehren, um Menschen zu helfen, die aus dem Bürgerkriegsgebiet Libyens fliehen. Danke für eure Unterstützung – Seenotrettung ist kein Verbrechen“ twitterte die Sea-Watch-Crew und rüstet sich vor allem für den Kampf gegen die von der EU geförderte libysche Küstenwache.     

Für Unruhe unter NGOs sorgte dann auch die Ankündigung Frankreichs, der libyschen Küstenwache sechs Schnellboote vom Typ 1200 Rafale zu liefern. Anfang Mai legten acht französische NGOs, darunter Médecins sans Frontieres und Amnesty International France, bei einem  Pariser Gericht Berufung dagegen ein.

Seit 2016 unterstützt die EU und vor allem Italien die libysche Küstenwache mit Millionengeldern und hilft ihr illegale Migranten auf der Mittelmeerroute abzufangen, nach Libyen und dann in Kooperation mit IOM Libyen in deren Heimat zurück zu bringen. Angaben des UNHCR zufolge transportierte  die Küstenwache bis 22. Mai 2.222 Migranten nach Libyen zurück. Von Libyen aus arbeitet IOM dann mit den Migranten zusammen, um auf sie auf freiwilliger Basis in ihr Herkunftsland zurückzubewegen. Laut IOM kehrten seit Anfang April dieses Jahres im Zuge des „Voluntary Humanitarian Return Programme“ 1.402 Migranten in 19 unterschiedliche Herkunftsländer heim. 

Derweil zieht das Aufklärungsflugzeug Moonbird seine Kreise und dokumentiert beinah täglich „von der EU gebilligte Menschenrechtsverletzungen“ durch die „sogenannte libysche Küstenwache“ und „unterlassene Hilfeleistungen“.