© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Gentrifizierung war gestern
Kino: Der Dokumentarfilm „Push“ des schwedischen Regisseurs Fredrik Gertten zeigt die einwohnerlose Stadt als Spekulationsobjekt
Sebastian Hennig

Der Dokumentarfilm „Push – Für das Grundrecht auf Wohnen“ des schwedischen Regisseurs Fredrik Gertten heftet sich an die Fersen von Leilani Farha. Die Rechtsanwältin aus Toronto führt den wohlklingenden Titel einer UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Wohnen. Doch ihr Wirken gleicht dem Feigenblatt an einem Vertreibungskrieg gegen die Einheimischen aller Heimaten. Die Bemühungen sind in etwa so zielführend wie jene UN-Friedensmissionen, die sich als kriegsbegleitende Maßnahmen erweisen anstatt tatsächlich Frieden zu stiften.

Hier wie dort stellt sich die Frage, ob diese Unternehmungen noch Teil des Problems sind oder tatsächlich schon zu dessen Lösung beitragen. Delegierte verschiedenster Herkunft sind dabei zu beobachten, wie sie sich während Farhas Vortrag ausnahmslos mit ihren Handtelefonen zerstreuen. Einen stellt die Kamera, wie er nach teuren Uhren sucht. Dazu ist vorn die Rede davon, daß Menschen von ihrem Lohn keine Wohnung mehr in jener Stadt bezahlen können, für deren Funktionieren sie täglich ihren Beitrag leisten.

Die Gäste der Eckkneipe in Toronto wirken wie Belagerte, die gleichwohl die letzten Stunden vor der Übergabe noch genießen wollen. Der altmodisch-elegante Mann hinterm Tresen konstatiert das Vordringen der Vintage-Klamottenläden. Von der Erdrosselung des städtischen Lebens profitiert ein früherer Sprachlehrer. Seines Berufes überdrüssig, erkannte er, wie einträglich die Wertsteigerung von Häusern sei. In einer Garage lagert er Dekorationsstücke zum Aufhübschen der zuweilen tristen Absteigen, die er Interessenten zu schwindelerregenden Preisen überläßt. 

Neben den Recherchen von Farha in London, der chilenischen Hafenstadt Valparaiso, in Berlin, Uppsala und Seoul befragt der Film drei Kenner wirtschaftlicher Grauzonen, die Soziologin Saskia Sassen und den Ökonomen Joseph Stiglitz, beide US-Amerikaner, sowie den italienischen Schriftsteller Roberto Saviano. Der erwähnt die Geldwäsche als Ursache absurder Preissteigerungen. Sassen weist darauf hin, daß der Begriff der Gentrifizierung das tatsächliche Geschehen nicht mehr beschreibe. Wohnungen seien keine Ware mehr, die den Einwohnern gewinnbringend angeboten werde. Sie hätten sich in abstrakte Wertanlagen verwandelt, die sich auch unvermietet im Sekundentakt verkaufen lassen. Sassen besteht auf einer Unterscheidung zwischen Banken und Finanzwesen, letzteres sei eine abschöpfende Industrie.Auch Stiglitz weist darauf hin, daß das Finanzwesen keinen Wohlstand schafft. Es nimmt ihn anderen weg. 

Bürgermeister großer Städte schließen sich zusammen

Vor gut vierzig Jahren haben die Städte aufgehört, ihre Entwicklung selbst zu verwalten. Gegen Ende des Films sehen wir den Schimmer einer Lösung dort anknüpfen. Die Berichterstatterin bemüht sich um einen Zusammenschluß der Bürgermeister großer Städte, damit diese die Gestaltungshoheit wieder zurückgewinnen. 

Die Stärke des Films liegt darin, daß er sich nicht selbstgefällig auf die moralische Überlegenheit zurückzieht. Da gibt es Zwangsräumungen und dubiose Hochhausbrände wie im Londoner Greenfell Tower mit vielen Todesopfern. Zahllose Londoner Immobilien befinden sich in ausländischem Besitz, der den profitablen Leerstand ganzer Viertel bewirkt. Der behäbige Kreuzberger Konditor ist an sein Geschäft gekettet wie ein Sklave an die Ruderbank. Er kann eine Neuverhandlung des Mietzinses um den Preis der Kündigung nicht abwenden, da er in die Ausstattung investiert hat. Ungläubig hört er den süßen Klang der Worte des bündnisgrünen Bezirksstadtrates Florian Schmidt.

Das sonst zwischen den arbeitsamen Bewohnern zirkulierende Geld wird von großen Gesellschaften aufgesogen, welche die kleinen Geschäfte der Einheimischen mit ihren unabweisbaren Angeboten zunehmend ersetzen. Diese Brutalität ist kaum verschieden von der Demolierung der Hütten in Seoul mit Eisenstangen und Hämmern. Sie trägt nur ein anderes, zierlicheres Gewand. Ein Koreaner erzählt vor dem Hintergrund einer tristen Hochhaussiedlung auf den Trümmern eines Dorfes von einer überfallartigen Räumung. Der Nieselregen legt ihm Tränen über das beherrschte Gesicht. Die Tropfen sammeln sich auf den leeren Klammern der Wäscheleinen, die als Zeugnis der früheren Belebtheit die Brache noch überspannen.

Mit der umtriebigen Bürgermeisterin von Barcelona ruft Farha die Initiative „The Shift“ ins Leben. Bei einem Treffen in New York ist der Regierende Bürgermeister von Berlin zu sehen, neben Amtskollegen aus Paris, London und Montevideo. Auch Craig Mokhiber, Direktor des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte, ist zugegen. Leilani Farha steht vor dem großen Fenster mit Blick auf den Hudson. Sie macht ein Erinnerungsfoto und überlegt, ob sie es nicht noch einmal mit dem Finanzthema versuchen sollten. Ganz beiläufig wird dieser springende Punkt erwähnt. Im Nachspann stellt Saskia Sassen mit einem milde sarkastischen Lachen fest: „Wir benutzen immer noch dieselbe Sprache für etwas, das sich grundlegend verändert hat.“

Kinostart am 6. Juni 2019