© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Die Regieanweisungen befolgt
Relotius-Skandal: Der Abschlußbericht stellt dem „Spiegel“ ein vernichtendes Urteil aus
Ronald Berthold

Zugespitzt formuliert handelt es sich um ein Dokument zur Entschlüsselung der Lügenpresse. Konkret ist es der Abschlußbericht zum Fall Claas Relotius. Schonungslos zeigt er auf, wie der Fälscher jahrelang seine erfundenen Geschichten im Spiegel unterbringen konnte und wie ihm dabei die Strukturen des Magazins und das „passende Weltbild“ halfen. Die Untersuchungskommission arbeitet auch heraus, daß „Erfindungen“ und Einseitigkeit zum Reportage-Journalismus gehören. Dem Spiegel gebührt das Verdienst, dieses für ihn – laut neuem Chefredakteur Steffen Klusmann – „verheerende“ Dossier auf 17 Heftseiten veröffentlicht zu haben.

Fünf Monate hat die dreiköpfige Kommission „einen der schwersten Fälle von publizistischer Fälschung in der Nachkriegsgeschichte“ untersucht. Herausgekommen ist eine Abrechnung mit dem intern „verhaßten“ Ressort „Gesellschaft“, dessen Leiter Matthias Geyer, dem einst designierten Chefredakteur Ullrich Fichtner sowie der hochgejubelten Spiegel-Dokumentation, die „versagt“ habe.

Der mit 40 Journalistenpreisen überhäufte Reporter Relotius war im Dezember als Fälscher enttarnt worden – von dem freien Mitarbeiter Juan Moreno und gegen den massiven Widerstand der Blattführung. Klusmann sagt nun: Man habe „in einem Ausmaß Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstäben dieses Hauses unwürdig ist“.

Bei der Antwort auf die Frage, wie die Lügengeschichten ins Blatt gelangten, legt die Kommission den Finger in eine Wunde, die nicht nur beim Spiegel eitert: „Innerhalb eines selbstreferentiellen Systems der medialen Blase war niemand in der Lage, das Unwahrscheinliche in Relotius’ Texten als Fälschung zu vermuten oder gar zu erkennen.“ Wie sehr das zutrifft, zeigt die Mail, die ein Vorgesetzter an Relotius schrieb, nachdem dieser eine Reportage über syrische Flüchtlingskinder in der Türkei erfand. Obwohl schon im Vorspann der haarsträubende Satz steht „Manchmal, im Traum, erscheint ihnen Angela Merkel“, lobhudelte er: „Weiß gar nicht, wann mich ein Text zuletzt so mitgenommen hat. Unerträglich starker Text.“

Über die erlogene Geschichte zur vermeintlichen Dummheit der Trump-Wähler in Fergus Falls begeisterte sich Matthias Geyer. Er mailte Relotius, dieser habe „einen Text geschrieben, der einem endlich klarmacht, was da los ist“. Ging es um die Bestätigung der eigenen Vorurteile? Die Kommission formuliert es auch nach dem Stichwort „passendes Weltbild“ so: „Die Geschichten von Relotius paßten offenbar in vielerlei Hinsicht perfekt in die Erwartungshaltung der Redaktion.“ 

Die Aufklärer sehen sich veranlaßt, dem Spiegel eine Anfängerregel ins Stammbuch zu schreiben: „Die erste Frage an einen Text muß immer lauten: Stimmt das? Ist es plausibel? Kann das sein?“ Eine Ohrfeige für Fichtner. Denn der hatte, als er den Relotius-Skandal vor einem halben Jahr öffentlich machte, geschrieben: „Es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt?“ Dieser für ein Leitmedium blamable Satz verdeutlicht das gespaltene Verhältnis zur Wahrheit.

Detailliert erstellt die Kommission eine Chronologie vom 13. November, dem ersten Alarmruf Morenos, bis zum 19. Dezember, als Fichtner im Spiegel über die Affäre schrieb. Sie liest sich wie ein Krimi, in dem der Unwille, die Vorwürfe zu klären, überdeutlich wird und in dem die Blattleitung aus dem Aufklärer Moreno einen potentiellen Fälscher und aus dem Täter Relotius ein Opfer machte. So unterstellte Geyer Moreno „völlig unprofessionelles Verhalten“ und vermittelte ihm „den Eindruck, gerade gefeuert worden zu sein“.

Als die Protagonisten der Geschichte über eine US-Bürgerwehr gegen den lateinamerikanischen Flüchtlingstreck in später von Moreno gedrehten Videos sagten, sie hätten Relotius nie gesehen und viele Details des Artikels widerlegten, zweifelte Fichtner sogar die Echtheit an. Der amtierende Spiegel-Chef verstieg sich zu der Beleidigung, Moreno wirke „wie eine Figur aus einem Mafiafilm“. Er unterstellte ihm auch, den Gefilmten „womöglich sogar Geld bezahlt“ zu haben. Es stellt sich die Frage: Wie will ein Mann, der trotz Beweisen die Fälschungen des eigenen Reporters nicht erkennt, sein Blatt gegen die Verbreitung extern zugespielter Fake News schützen? 

Moreno widerspricht Fichtner übrigens massiv. Er habe weder irgendwie gedroht noch angedeutet, illoyal zu werden. Das heißt: Neben Relotius gibt es mindestens einen weiteren Lügner beim Spiegel. Ob der Moreno oder Fichtner heißt, klärt der Bericht nicht.

Der freie Mitarbeiter, von Existenzangst geplagt, recherchierte weiter und entdeckte eine andere gefälschte Relotius-Geschichte. Jetzt ging alles ganz schnell. Was Fichtner nicht schaffte oder wollte, erreichte ein weiteres Mitglied der Chefredaktion: Özlem Gezer fährt zu Relotius, hält ihm die Sachlage vor. Letztlich gesteht er.

Nach der Lektüre des Abschlußberichtes ist es kaum noch möglich, Reportagen im Spiegel und anderen Medien zu trauen. „Plots werden akribisch geplant und Figuren gelegentlich wie bei einem Filmcasting gesucht“, heißt es. Bereits vor der Recherche gebe es zuweilen Drehbücher, die die Dramaturgie festlegten. Es bestehe die Gefahr, daß das, was den Regieanweisungen zuwiderlaufe, im Text wegfalle. 

Ist Schwindeln und Erfinden erlaubt? 

Relotius erhielt vor seiner Fälschung über die US-Bürgerwehr folgende Vorgabe zur Hauptfigur: „Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heißgelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze ankündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.“ Vorgegebene Ergebnisse erhöhen – unabhängig vom Fall Relotius – den Druck auf Reporter, nicht das zu schreiben, was sie am Rechercheort erleben, sondern zu schildern, was sich der Vorgesetzte am Grünen Tisch ausgedacht hat.

Laut Abschlußbericht handelt es sich um eine generelle Schwäche des Journalismus: „Diese Art der Komposition von Reportagen kommt nicht nur im Spiegel vor, sie wurde zumindest bis zum Fall Relotius manchen jungen Journalisten sogar von Experten nahegebracht.“ Als Beleg führt er die Unterrichtseinheit für Volontäre „Ist Schwindeln und Erfinden erlaubt?“ an. Diese Frage sei von Dozenten keineswegs klar und kurz mit „Nein“ beantwortet worden. Einigkeit aller Lehrer, meist selbst Reporter, habe darin bestanden, „daß das erlaubt sei“, so der Bericht. Noch nach Relotius plädierte der Autor des Standardwerks „Die Reportage“, Michael Haller, in der taz „für ein etwas anderes Realitätsverständnis“ der Reporter.

Die Kommission beschreibt, wie die Ausbildung ablaufe: „Journalistenschüler lernten, Szenerien auszuleuchten, ihre Protagonisten zu formen, Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der Dramaturgie unterzuordnen, Geschichten rund zu machen.“ Da die Wirklichkeit nie rund, nie schwarz-weiß, sondern eben widersprüchlich und sperrig ist, erklärt sich hier eine Ursache des „Lügenpresse“-Vorwurfs. Überdeutlich heißt es: Die Erzählweise, die in Reportageseminaren gelehrt werde, bediene sich aus dem Werkzeugkasten „der Fiktion“.