© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Und Deutschland zahlt die Zeche
Der Young-Plan von 1929 bestätigte die finanzielle Abhängigkeit der europäischen Mächte von den USA
Stefan Scheil

Beunruhigende Nachrichten waren es, die der langjährige Außenminister Gustav Stresemann vor dem deutschen Reichstag zu verkünden hatte. Europa als Ganzes sei in Gefahr, „eine Kolonie derjenigen zu werden, die glücklicher gewesen sind als wir“. Das Parlament nahm es mit einiger Aufregung entgegen. Man schrieb den 24. Juni 1929.

Stresemanns Äußerung fiel unmittelbar nach den Verhandlungen über den damals jüngsten Versuch, den weltweiten Finanztransfer anhand der Regeln der US-amerikanischen Präsidentschaft auszurichten. Es ging um den kurz zuvor ausgehandelten „Young-Plan“, den nächsten Anlauf, um die finanziellen Folgen des Weltkriegs zwischen 1914 und 1918 zu bewältigen. 

Rückzahlung aller Kriegskredite an die USA

Diesem Krieg war die finanzielle Oberhoheit der Vereinigten Staaten über sämtliche europäischen Kriegsteilnehmer gefolgt. Europa hatte sich insgesamt um seine führende Stellung in der Welt gebracht. Besonders im Fokus standen natürlich die Deutschen selbst, die man 1919 in Versailles einen Blankoscheck hatte unterschreiben lassen, für den Gesamtschaden aufzukommen. In welcher Höhe das geschehen sollte, war einstweilen noch unbestimmt geblieben. Schließlich wurden Zahlen in dreistelliger Milliardenhöhe genannt, die das deutsche Leistungsvermögen eindeutig überstiegen und im Rahmen des damaligen internationalen Zahlungsverkehrs überhaupt nicht zu bewältigen waren.

Während man sich um diese deutschen Verpflichtungen stritt, rollte das Rad der amerikanischen Weltpolitik aber unbeirrt weiter und auch über die vermeintlichen europäischen Siegerstaaten hinweg. In den drei Jahren nach der Versailler Konferenz schädigten die Vereinigten Staaten die britische Vormachtposition in ganz anderer Weise, als es die vergleichsweise bescheidene deutsche Flottenrüstung der Vorkriegszeit geschafft hatte. Die USA verlangten nicht nur die vollständige Rückzahlung der Kriegskredite, die sie Großbritannien gewährt hatten. Sie drohten außerdem, mit einer weiteren Verstärkung ihrer Marine Großbritannien endgültig den Rang als erste Seemacht abzulaufen, und sie zwangen Großbritannien, das bewährte Bündnis mit Japan aufzugeben. Letzteres stellte einen indirekten Angriff auf die britisch-japanischen Positionen in Ostasien dar und warf schon einen ersten welthistorischen Schatten auf die Kriege der 1930er Jahre in dieser Region.

Angesichts solcher Aussichten wurde in London tatsächlich ein Wettrüsten mit den USA in Erwägung gezogen, wie man es vor 1914 mit Deutschland angefangen hatte, in dem die Briten mit ihrer „Dreadnought“-Politik die Übermacht in der Seerüstung zementierten. Das war aber nun angesichts der Finanzlage ganz ausgeschlossen, wie Premier Lloyd George treffend formulierte: „Wir würden uns dem größten Potential der Welt gegenübersehen.“ Es fiel in den Sitzungen des britischen Kabinetts sogar das Stichwort „Krieg“. Die Aussicht auf eine Auseinandersetzung mit den USA wurde aber als „gräßlich“, „schrecklich“ und letztlich „undenkbar“ eingestuft. Darin wurde sich das Kabinett einig. 

So konnten die USA ohne weitere heiße Auseinandersetzung das Schuldenkarussell aus deutschen Reparationszahlungen, Kredittilgung der westeuropäischen Mächte und eigenem Kapitalexport in Gang setzen, das die Weltwirtschaft der zwanziger Jahre bestimmen sollte. Auch Großbritannien hatte unter diesen Bedingungen seine finanzielle Autonomie eingebüßt.

In der Praxis erzwang die Abwicklung dieser ganzen Finanzaffären neue Wege. 1924 trat der nach dem späteren US-Vizepräsidenten benannte Dawes-Plan in Kraft, der die deutschen Reparationsleistungen recht unverblümt auf Pump mit US-Krediten finanzierte. Zwar gab es dafür den Friedensnobelpreis an Dawes, aber das konnte so ersichtlich nicht ewig gehen.

Ein Tilgungsplan wurde bis zum Jahr 1988 festgelegt

1929 folgte daher der Young-Plan, der nun tatsächlich darauf abzielte, die deutschen Zahlungen aus der laufenden Wirtschaft heraus zu finanzieren und eine deutsche „Gesamtschuld“ von 36 Milliarden Reichsmark vorsah, die zu verzinsen waren und bis ins Jahr 1988 langsam getilgt werden sollten. Zur Abwicklung gründete man die „Bank für internationalen Zahlungsausgleich“. 

„Fronen sollt ihr bis in die dritte Generation“, hieß es darauf aus der politischen Rechten in Deutschland. Eine Volksabstimmung über den Young-Plan lockte trotzdem nur knapp dreizehn Prozent aller Wahlberechtigten an die Urne. Die stimmten dann allerdings zu über neunzig Prozent mit Nein und lieferten den Machern des bundesdeutschen Grundgesetzes 1949 auch damit einen Vorwand, keine Volkabstimmungen mehr zuzulassen. 

Das Quorum für ein erfolgreiches Volksbegehren wurde 1929 jedenfalls weit verfehlt. Vielleicht ahnte das übrige Wahlvolk nach den ganzen Aufregungen der letzten Jahre schon, daß weiterer Ärger über diese Kreditaffären eher überflüssig war und auch über den neuen Plan die Zeit schnell hinweggehen würde. Der Young-Plan hatte denn auch nur drei Jahre, bis er im Sommer 1932 auf einer Konferenz in Lausanne aufgehoben wurde.

Letztlich stellte es sich damit als unmöglich heraus, die Bewältigung der Kosten eines Weltkriegs einem einzelnen unterlegenen Staat aufladen zu wollen, so wie in Versailles beschlossen. Letzte Zahlungen aus der seinerzeit begonnenen Abwicklung des Young-Plans und weiter gültigen alten Wertpapieren soll die Bundesrepublik zwar erst im Jahr 2010 geleistet haben. Allerdings handelte es sich um einen dreistelligen Millionenbetrag, der kaum noch ins Gewicht fiel.

Mit seiner grundsätzlichen, düsteren Prognose vor dem Reichstag behielt Gustav Stresemann allerdings weitgehend recht. Es gab einen Trend, der die europäischen Nationalstaaten zu einer US-amerikanischen Kolonie werden ließ. Zu den bedeutenden Versuchen, dies angesichts der Weltwirtschaftskrise nach 1929 noch einmal zu ändern, gehörten das 1932 installierte britische Zollsystem von Ottawa, das aus dem Empire einen geschlossenen Wirtschaftsraum machen sollte und eigene währungspolitische Maßnahmen vorsah, aber auch die staatssozialistischen Anstrengungen im NS-regierten Deutschland. Beides sah man in Washington höchst ungern, und beides wurde in der ersten Hälfte der 1940er Jahre nachhaltig bekämpft.

Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und seine Folgen beschäftigen Europa bis heute.