© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Kalter Frieden und die starre Nato-Strategie
Horst Teltschik analysiert, warum Rußland den Sicherheitsversprechen des Westens nicht mehr traut
Paul Leonhard

Zwischen Rußland und dem Westen herrscht wieder Eiszeit. Man mißtraut einander, rüstet konventionell wie atomar auf. Die Nato gefällt sich in einer „unflexiblen, starren Strategie“, die darauf setzt, daß der Gegner nachgibt. Das einstige Angebot, Rußland in die Nato zu integrieren, ist vergessen, der Nato-Rußland-Rat ausgesetzt.

Wie konnte es dazu kommen, fragt Horst Teltschik, einst außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, in seinem Buch „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“. Wo bleibe die ausgestreckte Hand, mit der die Politik der Stärke selbst im Kalten Krieg einherging? Das heutige Rußland sei nicht mehr der schwache Staat der 1990er Jahre, sondern fühle sich „sicher, unangreifbar und auf Augenhöhe mit den USA“. Die Chance von 1989/90 auf eine stabile internationale Friedensordnung sei verspielt worden, weil der Westen mit sich selbst beschäftigt gewesen sei und in Rußland nur noch eine Regionalmacht gesehen habe.

Detailliert zeichnet der Autor, beginnend mit der Berlin-Blockade und der Kuba-Krise, die Geschichte des Kalten Krieges und der Entspannungspolitik bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems nach. Stets habe die westliche Strategie darauf beruht, die Interessen des Gegenübers wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. 

Rußland möchte weiteren Einflußverlust vermeiden

Mit Wehmut erinnert der 78jährige an die Charta von Paris, als „der großartigen Idee einer gesamteuropäischen Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok, basierend auf Demokratie, Menschenrechten und liberaler Marktwirtschaft“. Leider sei die Prognose des russischen Präsidenten Boris Jelzins richtig gewesen, der angesichts der Nato-Osterweiterung vor einem Verlust des russischen Mitspracherechts bei der Neugestaltung Gesamteuropas, vor einer neuen Spaltung des Kontinents und vor einem „kalten Frieden“ gewarnt hatte. Moskau habe seitdem immer wieder vergeblich seine grundsätzliche Kooperationsbreitschaft signalisiert. Wenn Rußland jetzt aggressiv agiere, dann nicht, „weil es seinen Einfluß ausdehnen, sondern weil es einen weiteren Einflußverlust vermeiden möchte und weil es den Sicherheitsversprechen des Westens nicht mehr traut“.

Vom Westen brüskiert, setze Moskau inzwischen auf China und Indien als strategische Partner, die der 2001 gegründete Schanghai-Organisation angehören, und knüpfe wieder sein altes Netzwerk in Afrika und Lateinamerika. Gleichzeitig halte es den Konflikt in der Ostukraine weiter am Köcheln, um den noch immer im Raum stehenden Nato-Beitritt Kiews zu verhindern und damit eine Präsenz von Nato-Truppen entlang seiner 2.295 Kilometer langen Grenze zur Ukraine. Nüchtern betrachtet komme aber die Gefahr für Rußland nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten und Süden. Dazu kommen Prognosen wie die der Weltgesundheitsorganisation, die davon ausgeht, daß angesichts der niedrigen Geburtenrate Rußlands spätestens im Jahr 2050 mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit zu rechnen ist.

Es brauche wieder eine „Gipfeldemokratie, wie in der Endphase des Kalten Krieges, wo alle gegenseitigen Beschwerden auf den Tisch kommen und nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird – sei es im Rahmen des Nato-Rußland-Rates oder der OSZE“, appelliert Teltschik. Im Februar 2015 habe Bundeskanzlerin Angela Merkel gezeigt, daß derartiges funktioniere, als sie mit Frankreichs Staatschef François Hollande nach Moskau zu Präsident Putin gereist sei, um unter Einbeziehung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in 17 Stunden das Minsker Abkommen auszuhandeln. Teltschik rät zu Gesprächen mit- statt übereinander, warnt davor, den Gegner als Strafe für Fehlverhalten von der internationalen Kommunikation auszuschließen und die Wiederaufnahme von Kontakten an Bedingungen zu knüpfen. 

Gespräche über Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie vertrauensbildende Maßnahmen seien erforderlich, um Überreaktionen auf beiden Seiten zu verhindern: Wer über das Militärpotential seines Gegenübers Bescheid weiß, sei weniger anfällig für wilde Spekulationen. Gegenwärtig sei man mit militärischen Muskelspielen dabei, warnt Teltschik, „russisch Roulette zu spielen, und es könnte sein, daß irgendwann die Patronenkammer einmal nicht leer ist“.

Horst Teltschik: Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 234 Seiten 16,95 Euro