© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Keine eierlegende Wollmilchsau in Sicht
Fortschritte bei der Entwicklung von Alternativen zum Tierversuch / Ohne Leiden geht es nicht
Dieter Menke

Elf Millionen Versuchstiere sterben in Europa jährlich den Labortod. Knapp drei Millionen von ihnen opfern in Deutschland höchst unfreiwillig ihr Leben für den wissenschaftlichen Fortschritt. Daran hat hierzulande das 2013 novellierte Bundestierschutzgesetz sowenig geändert wie die spektakulären „Befreiungen“ aus Institutskäfigen durch militante Tierschutzaktivisten.

Und „für absehbare Zeit“ bleibe es auch bei diesem unerfreulichen Zustand, prognostiziert Brigitte Vollmar. Die 57jährige Chirurgin muß es wissen. Ist die Direktorin des Rostocker Rudolf-Zenker-Instituts für Experimentelle Chirurgie doch 2018 an die Spitze der Senatskommission berufen worden, die in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die tierexperimentelle Forschung koordiniert. Vollmar ist in dieser Position zuständig für alle grundsätzlichen, vor allem auch ethischen Fragen im Spannungsfeld von Forschung, Tierwohl und Tierschutz.

Unentbehrlich für die Gesundheitsforschung

Im Interview mit dem DFG-Magazin Forschung (4/18) läßt die Medizinprofessorin bei aller Freundlichkeit im Ton doch nicht den geringsten Zweifel an der Härte, mit der sie Prioritäten setzt. Tierversuche, so stellt sie apodiktisch fest, seien „für die biomedizinische Forschung unverzichtbar“. Bereits die Vorstellung, man könnte „komplett aussteigen, verkennt die Sachlage und ignoriert das Anliegen, für das Wohl und die Gesundheit von Mensch und Tier zu forschen“. Ohne solche Arbeit an den Grundlagen des Lebens werde es langfristig „unweigerlich zu einer inadäquaten Versorgung von Patienten kommen“.

Auch Gesundheitspolitiker und Mediziner in den Niederlanden haben das inzwischen einsehen müssen. Die seien 2016 mit einem Konzept vorgeprescht, das den Aussteig aus der tierexperimentellen Forschung anbahnen sollte. Allein die Erwägung eines solchen Abschieds vom Versuchstiereinsatz hält Vollmar jedoch für „unanständig“. Mit Genugtuung beobachte sie daher, daß die niederländischen Kollegen jetzt „zurückrudern“. Zumal sie den Ausstieg ohnehin weniger radikal planten, als er öffentlich kommuniziert wurde. Ohnehin hätten sie einen Verzicht auf Versuchstiere lediglich für einen eng begrenzten Bereich in Betracht gezogen, ihn aber darüber hinaus für „unrealistisch“ gehalten.

Auch das Standardargument der Kritiker von Tierexperimenten, die unsichere Übertragbarkeit der am Tier gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen, weist Vollmar vehement, aber nicht sehr überzeugend zurück. Richtig sei, daß es keine automatische „Transferierbarkeit“ von Tierexperimenten gebe. Denn in jedem Fall werde Wissen generiert, das für die Zukunft nutz- und anwendbar sei. Selbst wenn es bis zum Praxistest, wie die Geschichte vieler mit dem Nobelpreis prämierten Entdeckungen zeige, mitunter Jahrzehnte dauere.

Wenn Tierversuche „unverzichtbar“ sind, heiße dies aber nicht, sie müßen im bisherigen Umfang fortgesetzt werden. Schon um die Akzeptanz für tierexperimentelle Forschung zu steigern, eine „essentielle Aufgabe“ ihrer Senatskommission, will Vollmar die Entwicklung und Verbesserung tierversuchsfreier Methoden fördern. Diese Selbstverpflichtung liest sich fast wie eine Einladung an die Adresse von Uwe Marx, er möge umgehend bei der DFG einen Förderungsantrag einreichen. Dessen Biotechnologiefirma TissUse, eine Ausgründung der TU Berlin, entwickelt Organe im Mini-Format, die ideal Vollmars Anspruchs-profil an „alternative Methoden“ zu genügen scheinen. Tierleiden vermeiden und bessere Experimente ermöglichen, das ist nach der Darstellung des Wissenschaftsjournalisten Christian Wolf die Geschäftsidee von Marx (Natur, 4/19). Die Organoide des Berliner Mediziners ersetzen nämlich nicht nur Versuchstiere, sie beseitigen auch die Crux der ungenügenden „Transferierbarkeit“ des am Tiermodell gewonnenen Wissens, das sich zu 70 Prozent eben nicht durch klinische Studien am Patienten Mensch bestätigen läßt.

Reduzierte biologische Modelle reichen nicht aus

Ihre nur wenige Millimeter kleinen Organe züchtet TissUse aus pluripotenten Stammzellen, die das Potential haben, sich in jedes beliebige Gewebe zu verwandeln, etwa in Nieren- und Leberzelle oder in Mini-Gehirne. Das Denk­organ des Menschen reift allerdings nur bis zur Erbsengröße heran, weil ihm Blutgefäße und die Anbindung an ein Kreislaufsystem fehlen. Es handelt sich also, wie Gilbert Schönfeld erläutert, der am Bundesinstitut für Risikobewertung Alternativmethoden zu Tierversuchen prüft und weiterentwickelt, um ein „reduziertes biologisches Modell“. Trotzdem lassen sich mit Hilfe solcher Organoiden die Entwicklungsprozesse des Gehirns präziser studieren als etwa im Gehirn von Labormäusen, an das ein Mikroskop aufgrund anatomischer Hindernisse nicht einmal nah genug herankommt, um die Bildung neuronaler Netzwerke im Detail nachzuvollziehen.

Im Angebot hat Marx aber nicht nur auf einen Chip produzierte Mini-Hirne. Sein Sortiment umfaßt im Maßstab 1 zu 100.000 verkleinerte Därme, Nieren, Lungen, sogar Herzen, insgesamt vierzehn Organnachbildungen. Die schon in der Pharma- und Kosmetikindustrie im Einsatz sind und Daten generieren, die im Tierversuch unerreichbar waren. Gleichwohl wachsen die Bäume auf diesem Forschungssektor nicht in den Himmel. Um allzu überschäumende Euphorie zu dämpfen, zitiert Christian Wolf Julia Ladewig, die am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim ebenfalls an Hirn-Organoiden forscht.

Für sie ist es zwar keine Frage, daß die Organoid-Technologie künftig dazu beitragen werde, Tierversuche zu reduzieren, aber niemand könne prognostizieren, ob sie das Tiermodell dereinst wirklich ersetze. Zu vieles sei bei dieser Methode noch im Fluß. Denn die „Organ-Chips“ der ersten Generation, die jetzt in vielen Laboren das Licht der Welt erblicken, bilden echte Organe „bei weitem nicht“ in deren Komplexität ab.

Dies Manko räumt Uwe Marx umstandslos ein. Schon wegen der geringen Größe der Chips seien Nachbildungen enge Grenzen gesetzt. So lasse sich nur am 300 Gramm schweren menschlichen Herzmuskel die Dynamik des Blutflusses erforschen. Und nur exklusiv am „Original“ des 1.300 Gramm schweren menschlichen Gehirns sind Bewußtseinsprozesse aufzuklären. Sofern das realiter überhaupt möglich sein sollte, denn die Forschung ist davon „sehr weit entfernt“, so daß Mini-Hirne hier gar nichts helfen könnten.

Marx schätzt, daß bis einem Viertel aller Tierversuche nicht durch „Organ-Baukästen“ zu ersetzen seien. Selbst dies scheint optimistisch angesichts des Fazits von Gilbert Schönfelder: kein menschliches Organ lasse sich derzeit „auch nur annähernd in seiner ganzen Komplexität abbilden“. Ein Organoid sei eben nicht die eierlegende Wollmilchsau, von der Tierversuchsgegner träumen.

Zenker-Institut für Experimentelle Chirurgie:  experimentelle-chirurgie.med.uni-rostock.de

Biotechnologieunternehmen TissUse GmbH:  www.tissuse.com/

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit:  www.zi-mannheim.de