© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

SPD und Einwanderung
Mehr Dänemark wagen!
Thilo Sarrazin

Die starke Stellung, die einwanderungskritische Parteien mittlerweile in nahezu jedem EU-Mitgliedsland haben, hat vielerorts das klassische Parteienmodell auf den Kopf gestellt. Darunter haben besonders sozialdemokratische und christdemokratische Parteien gelitten. Deren Versuche, Wähler zurückzugewinnen, führen dazu, daß sich der Kurs der Einwanderungspolitik in der EU generell verschärft. Dieses, mehr noch als der Stimmenanteil an der Wählerschaft oder die Beteiligung an der Regierung, ist der eigentliche Einfluß der einwanderungskritischen Parteien.

Bei der Europawahl siegten in den Ländern Osteuropas durchweg einwanderungskritische konservative Parteien. In Skandinavien und den Niederlanden erhöhten einwanderungskritische Parteien am rechten Rand ihren Stimmenanteil. Eine Ausnahme war Dänemark. Hier verlor die Dänische Volkspartei deutlich. Beobachter erklären dies damit, daß die etablierten Parteien in den vergangenen Jahren deren einwanderungs- und islamkritische Positionen weitgehend übernommen hatten. Der dänische Schriftsteller Carsten Jensen klagte, die Sozialdemokraten „haben die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der äußersten Rechten übernommen ... Die Dänische Volkspartei hat die Politikerseelen der Mitte erobert.“

Das dänische Beispiel illustriert, daß sich der Einfluß einwanderungskritischer Parteien nicht allein im Stimmenanteil äußert. Durch den Wettbewerb um die Gunst der Wähler prägen sie auch indirekt die Positionen anderer Parteien, die dadurch ihr Überleben sichern können: Während die SPD in Deutschland auch deshalb dem Untergang ins Auge sieht, weil sie zum Thema Migration nie eine realistische Position entwickelte, gewannen die dänischen Sozialdemokraten bei der Parlamentswahl. Die Vorsitzende Mette Frederiksen wird wohl neue Ministerpräsidentin, während die Dänische Volkspartei erheblich an Stimmen verlor. Maßgebend war dabei, daß sich die Sozialdemokraten schon seit einigen Jahren in der Einwanderungspolitik den Positionen der Dänischen Volkspartei weitgehend annäherten. So möchte sie eine Obergrenze für „nichtwestliche“ Migranten, die politisch festgelegt werden soll, und Asylbewerber sollen ihren Antrag künftig nicht mehr in Dänemark, sondern in Lagern außerhalb Europas stellen. 

Diese Positionierung, mit der die dänischen Sozialdemokraten die Wahl gewannen, ist bezogen auf Deutschland weitaus näher an der AfD als an der SPD oder auch der CDU/CSU. Spannend wird in den nächsten Wochen und Monaten sein, ob meine Partei, die SPD, gewillt ist, daraus zu lernen, und – wenn ja – was.






Thilo Sarrazin war Bundesbankvorstand und Berliner Finanzsenator. Er ist Autor mehrerer Bestseller (zuletzt: „Feindliche Übernahme“) und seit 45 Jahren Mitglied der SPD.