© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Zensur ohne Zensoren
„Haßpostings“: Kein juristischer Begriff – aber ein einschüchternder
Dushan Wegner

Im Regal sind Kekse“, sagt mein Sohn zu seiner großen Schwester, „bring uns doch welche!“

Die Schwester hört auf ihn – sie ahnt, daß es falsch ist, doch die Lust auf den Keks ist stärker als der Zweifel. 

Später, wenn ich die Delinquenten zur Rede stelle, reden sich beide heraus. „Ich habe die Kekse ja nicht genommen“, sagt der Sohn, die Verantwortung auf seine Schwester schiebend. – „Ich habe nur meinem Bruder helfen wollen“, sagt die Schwester treuherzig. „Soll ich denn nicht meines Bruders Helfer sein?“

Kinder lernen früh und oft ganz von allein das Konzept der „glaubhaften Abstreitbarkeit“ – eine Fähigkeit, die ihnen auch später im Leben zugute kommen wird, zum Beispiel in der Politik.

„Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es im ersten Absatz von Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes. Jeder habe das Recht, seine Meinung „in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“. Schon Absatz 2 desselben Artikels zeigt gleich die Grenzen der mit großer Geste geforderten Freiheit: Meinungsfreiheit findet „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze“, auch „in dem Recht der persönlichen Ehre“. Anders formuliert: Du bist frei, deine Meinung zu sagen, außer wenn du es nicht bist.

Man hätte, bis vor kurzem, auch sagen können: Eine Zensur ist nicht notwendig! – Das zwangsgebührenfinanzierte Fernsehen mit den Politikern in diversen Räten sagte dem Bürger zu Hause, was für ihn Realität zu sein hatte und was nicht. Zeitungen muckten nur selten auf (manchmal dann doch, fragen Sie Herrn Strauß!): Medienhäuser wollten (und wollen weiterhin) ihren „guten Draht“ nicht verlieren.

In seinem Lied „Tower of Song“ singt Leonard Cohen: „The rich have got their channels in the bedrooms of the poor“, frei übersetzt: „Die Reichen haben ihre Kanäle in die Schlafzimmer der Armen gelegt“ – eine Metapher für die Medienmacht von Konzernen in den USA und durchaus nicht unähnlich der Situation öffentlich-rechtlichen Eliten-Fernsehens in Deutschland.

Mit den sogenannten sozialen Medien wurde auch den Nicht-Reichen und den mythischen „kleinen Leuten“ ein „Kanal“ in die elektronischen Geräte und damit in die Schlafzimmer ihrer Mitbürger gegeben – und plötzlich stellt sich die Frage, „was gesagt werden darf“, aufs Neue. Ein Trick, mit dem sich Meinungsäußerung eindämmen läßt, ohne daß man als Zensor dasteht, ist die Verwendung des Kampfbegriffs „Haß“, optimal in Verbindung mit dem fragwürdigen Slogan „Haß ist keine Meinung“. Das Äußern negativer Emotionen soll außerhalb des Schutzes gestellt werden, den das Grundgesetz der Meinungsäußerung gewährt. Ist wirklich nur das „Hurra!“ des Untertanen eine zulässige Meinung?

In Deutschland wurden Anfang Juni 1984, pardon: 2019 bei einigen Bürgern die Häuser durchsucht, weil sie vermutlich Verbotenes im Internet gepostet hatten. Das Bundeskriminalamt veröffentlichte eine Pressemeldung mit dem Titel „Vierter bundesweiter Aktionstag gegen Haßpostings“. Darin hieß es: „Obwohl das Verfassen von Haßkommentaren kein Kavaliersdelikt ist, kommt es im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken, häufig zu haßerfüllten und damit auch strafbaren Beiträgen.“

Man fragt sich, welches Gesetz denn das Äußern negativer Emotionen im Internet verbietet – und seit wann „Haß“ für sich schon ein „Delikt“ ist. Man wundert sich über die Formulierung „haßerfüllten und damit auch strafbaren Beiträgen“. Folgt aus der negativen Emotion schon die Strafbarkeit? Man wundert sich über das begleitende Video, in dem propagandistische Begriffe („Haß und Hetze“) in die Beschreibung tatsächlich strafbarer Handlungen übergehen. Bereitet es dem Bundeskriminalamt nicht Sorge, daß Hausdurchsuchungen, die von juristisch äußerst unscharfer Quasi-propaganda begleitet werden, die Bürger davon abschrecken könnten, ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit auszuüben?

Es ist nicht das erste Mal, daß in Deutschland solche „Aktionstage“ stattfanden. Und man versucht gar nicht erst zu verhehlen, daß eine „erzieherische“ Wirkung beabsichtigt ist. Der damalige Justizminister ließ sich schon 2016 beim damaligen „Aktionstag gegen Haßpostings“ zitieren: „Das entschlossene Vorgehen der Ermittlungsbehörden sollte jedem zu denken geben, bevor er bei Facebook in die Tasten haut.“

Regen macht naß, selbst dann, wenn wir nicht sagen können, wer es ist, der da regnet. Zensur macht stumm, selbst dann, wenn wir nicht angeben können, wer es ist, der zensiert. Wenn meine Kinder ins Keksregal greifen und sich anschließend lustig herausreden, dann ist es niedlich, und wenn wir nicht gewollt hätten, daß sie die Kekse finden, hätten wir sie da nicht hingelegt. Bei aller Niedlichkeit aber: Ich mache meinen Kindern deutlich, zumindest durch ein Lachen und ein Zwinkern, daß ich ihr Spiel der „glaubhaften Abstreitbarkeit“ durchschaue.

„Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es. Was durchaus stattfindet, ist eine Vermischung von Legalem und Strafbarem, die manchen Bürger bewegen könnte, sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit „sicherheitshalber“ nicht auszuüben. 

Ob man den Keks nun „Zensur“ oder „Kampf gegen Haß und Hetze“ nennt – der Keks schmeckt nicht, und er ist gewiß nicht niedlich.






Dushan Wegner ist Essayist und bloggt auf 

dushanwegner.com