© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Wolfgang Reitzle. Der Unternehmer liest Deutschland immer wieder die Leviten.
Der Mahner
Harald Melzer

Eigentlich sind das auffälligste an ihm sein Menjou-Bärtchen, die sorgfältig zurückgekämmten Haare und die stets in einen Maßanzug mit Einstecktuch gekleidete schlanke Figur, die Wolfgang Reitzle auch mit siebzig Jahren noch hat. Doch unlängst waren es wieder einmal seine scharfen Worte, wonach Regierung und Gesellschaft Deutschlands Ruin Vorschub leisteten. Schon seit Jahren ist der Schwabe aus Neu-Ulm nicht um provozierende Kritik zur Lage der Nation verlegen, etwa wenn er den Euro-Ausstieg ins Spiel bringt. Verwunderlich, daß Deutschlands politisch mutigster Topmanager eines DAX-Unternehmens nicht ebenso bekannt ist wie ein Josef Ackermann oder Dieter Zetsche. 

Doch während letzterer sich in den Mercedes-Aufsichtsrat zurückzieht, startet Reitzle noch mal durch. Nötig hat er es nicht, verdiente er als Vorstand des Industriegasherstellers Linde und bei BMW doch Millionen und könnte sein Weingut in der Toskana bewirtschaften und bei edlen Anlässen mit Ex-Fernsehmoderatorin und Ehefrau Nina Ruge auf roten Teppichen flanieren.

Doch Reitzle ist ein Macher: Zäh hatte er zuletzt die Fusion der Linde AG, die er seit 2002 zu neuem Erfolg geführt hat, mit US-Konkurrent Praxair durchgeboxt. Nun leitet er das „Board of Directors“ des frischgebackenen Weltmarktführers, eine Kombination aus Aufsichtsrat und Vorstand, womit er mächtiger ist als jeder Vorstandsvorsitzende. Dabei gehörte Praxair bereits vor 1914 dem Wiesbadener Traditionsunternehmen, das aber während des Ersten Weltkriegs in den USA enteignet wurde.

Reitzle wird nicht müde zu betonen, die Fusion entspringe nicht etwa unternehmerischer Eitelkeit, sondern sei nötig, um den Konzern auf den kommenden Wirtschaftsabschwung vorzubereiten. Dessen Folgen bedrohten uns um so mehr, als Deutschland sich unter Merkel in Sachen Migration, Energie, Verteidigung oder Steuern von einer faktenbasierten Politik verabschiedet habe. Die „unkontrollierte Migration“ etwa werde sich, so Reitzle, als „fundamentaler (...) nicht mehr korrigierbarer Fehler“ erweisen. Ebenso wie die Energiewende, die lediglich in eine „sündteure Sackgasse“ führe. Völlig unterschätzt, gibt Reitzle überraschend zu bedenken, werde auch der Schaden Deutschlands durch den Zustand unserer Armee, denn die Bundeswehr „blamiere“ uns vor der ganzen Welt: „Flugzeuge, die nicht fliegen. Panzer, die nicht fahren. Gewehre die nicht schießen (...) Damit entzaubern wir uns!“ Wie sehr der „Nimbus der deutschen Perfektion leidet“, davon „machen (wir uns) hierzulande kaum eine Vorstellung“. Reitzle denkt nicht nur als Magnat, ihn schmerzt, daß Deutschland „keinen Anspruch mehr an sich selbst hat“, Gleichheit und Umverteilung vor Leistung rangierten: „Das kann nicht funktionieren (...) mit dieser Einstellung werden wir gegenüber China, Korea oder den USA kaum bestehen.“