© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Wege und Irrwege eines Denkers
Im Spannungsfeld zwischen linker Ideologie und Wirklichkeit: Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas kann kommende Woche seinen 90. Geburtstag feiern
Dietmar Mehrens

Ein Konflikt wie zwischen Jakobinern und Girondisten. Der gemäßigte Jürgen Habermas hier und auf der anderen Seite Rudi Dutschke, der Aufwiegler, ein Mann, der heute der Hetze und Haßrede bezichtigt würde. Es war eine aufgeheizte Zeit damals, 1967: der Schah in Berlin, Studentenproteste, der tödliche Schuß auf Benno Ohnesorg durch einen (was damals keiner ahnte) Stasi-Mann.

Nach Ohnesorgs Beerdigung spitzte sich auf einem Kongreß des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) in Hannover die Konfrontation zwischen Habermas, dem philosophischen Kopf der Bewegung, und Rudi Dutschke, ihrem Robespierre, zu: Die Frontfigur des SDS forderte die „direkte Aktion“ und warf Habermas „begriffslosen Objektivismus“ vor. Der saß bei Dutschkes Frontalangriff bereits im Wagen und kehrte noch einmal in den Saal zurück, um dem radikalen Rädelsführer nun seinerseits „utopischen Sozialismus“ vorzuwerfen, den man unter den aktuellen Umständen „linken Faschismus“ nennen müsse.

„Herrschaftsfreier Diskurs“ und Tabubrüche

Der Kreis der meinungsführenden Linksintellektuellen, zu denen der gebürtige Düsseldorfer gehörte, hat es nicht immer leicht gehabt mit Jürgen Habermas. Oft war er sogar eine Enttäuschung. Wenn er deren flachen Gesinnungskonformismus nicht mit seinem Verstand in Einklang bringen konnte, ließ er sich auch nicht vereinnahmen.

Sein Aufstieg zu einem der führenden bundesdeutschen Intellektuellen begann 1955, als er Assistent am Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde, geleitet von den beiden Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Der von ihnen maßgeblich geprägten Frankfurter Schule ging es im wesentlichen um marxistische Kapitalismuskritik; die von Horkheimer entwickelte „Kritische Theorie“ verband Theorien des Marxismus mit Sigmund Freuds Psychoanalyse. Wie bei vielen Altlinken ist auch in Habermas’ Biographie eine zunehmende Emanzipation vom ursprünglichen Marxismus zu erkennen: Die bürgerliche Gesellschaft muß nicht mehr zerschlagen werden, sie kann sich durch einen von der Vernunft geleiteten Diskurs entwickeln.

Von 1971 bis 1981 war Habermas an der Seite Carl Friedrich von Weizsäckers Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts, ehe er 1983 wieder an die Frankfurter Universität zurückkehrte. Dort besetzte er bis zu seiner Emeritierung 1994 den Lehrstuhl für Philosophie.

Anfang der siebziger Jahre vollzog er einen Umschwung vom Gesellschaftstheoretiker zum Sprachphilosophen. Die Beschäftigung mit der Sprechakttheorie von Austin und Searle und die aus ihr abzuleitende Verbindung von sprachlichem und gesellschaftlichem Handeln bereiteten sein 1981 erschienenes Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ vor. Danach basiert ein „herrschaftsfreier Diskurs“ auf vier Grundpfeilern: gleichberechtigten Kommunikationspartnern; der gleichen Möglichkeit, sich zu äußern; einem symmetrischen Gespräch; Entscheidungen fallen allein aufgrund des überzeugenderen Arguments. Daß die öffentlichen Debatten heutzutage weiter denn je davon entfernt sind, ist augenfällig.

Auch was die Bedeutung der Religion, des Metaphysischen, anbelangt, machte der Sozialforscher eine Wandlung durch: Das Christentum, das für Marx noch desaströses Opium des Volkes war, sieht er als wichtiges kulturelles Erbe, von dem auch er zehre.

Immer hat der mit Preisen überhäufte Wissenschaftler sich zu Wort gemeldet, wenn ihm ein politischer Kurs korrekturbedürftig erschien. Als Angela Merkel 2013 einen visionslosen Weiter-so-Wahlkampf führte, wagte er einen ähnlich eklatanten Tabubruch wie 1967 in Hannover und provozierte die auf Konsens gebürstete, so wörtlich, „merkelfromme Medienlandschaft“ mit der Aussage, daß der AfD Erfolg zu wünschen sei. „Ich hoffe“, so zitierte ihn die Frankfurter Rundschau, „daß es ihr gelingt, die anderen Parteien zu nötigen, ihre europapolitischen Tarnkappen abzustreifen.“

Wer Jörg Meuthen während des jüngst zu Ende gegangenen Wahlkampfs im Schlagabtausch mit seinen Mitbewerbern um einen Sitz im EU-Parlament erlebt hat, dürfte erkannt haben, daß der Wunsch des alten Herrn immerhin teilweise in Erfüllung gegangen ist.

Unrühmliche Rolle im Historikerstreit

Provokationen sind seine vermeintlichen Tabubrüche sowieso nur für diejenigen, die aufgrund ideologischer Scheuklappen nicht in der Lage sind, das Offensichtliche zu erkennen. Auch der Faschismus-Vorwurf an die Adresse der APO-Revoluzzer Ende der sechziger Jahre war schließlich nichts anderes als der Schulterschluß mit Hannah Arendt, die schon 1951 in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ die prinzipielle Gleichartigkeit totalitärer Herrschaftsformen linker und rechter Provenienz herausgearbeitet hatte.

Eine unrühmliche Rolle spielte Jürgen Habermas 1986/87, als er mit seiner Replik auf die Thesen Ernst Noltes und Michael Stürmers zur NS-Zeit und ihrer historischen Bewertung den sogenannten Historikerstreit ins Rollen brachte. Der Versuch Noltes, die Vernichtung des europäischen Judentums in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen und Parallelen zwischen dem deutschen und älteren, „ursprünglicheren“ Genoziden wie dem Gulag-System Stalins zu ziehen, verurteilte er und unterstellte Nolte einen Hang zum Antisemitismus. Habermas argumentierte mit der Singularität des Holocaust und warnte vor Geschichtsrevisionismus. Immerhin: Die Offenheit, mit der die kontroversen Positionen damals in FAZ, Zeit, Spiegel, Frankfurter Rundschau und anderen Blättern ausgetauscht werden konnten, steht in auffälligem Kontrast zur Situation heute.

Diese Veränderung hin zu einer Konsenskultur ist auch dem Frankfurter Philosophen nicht entgangen. 2013 warf er Bundeskanzlerin Merkel im Spiegel „tranquillistisches Herumwursteln“ und einen „Opportunismus der Machterhaltung“ vor. Den deutschen Politikern empfahl er, dem Wahlvolk endlich reinen Wein einzuschenken und es per Volksbefragung selbst über Europas Zukunft und Deutschland in ihr entscheiden zu lassen.

Seine Kritik an selbstgefälligen Eliten ist die eines klassischen Linken: Im Europa-Diskurs identifiziert Habermas Deutschlands Austeritäts-Doktrin als ein Hauptproblem der EU, denn sie führe zu Spaltungen. Bei Sparern kann der Philosoph nicht punkten. Als Antikapitalist findet er eine solide Geldpolitik sekundär. Trotz der wirtschaftspolitischen Disharmonien sieht er Deutschlands Zukunft in einem vereinigten Europa. Sein Modell ist ein Zwitter aus überstaatlichem Gemeinwesen und Staatenbund mit EU-Bürgern in einer Doppelrolle: als National- und Europabürger. 

Habermas’ Vorschlag exemplifiziert das Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Vision: Philosophen sind Denker, keine pragmatischen Macher.