© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Leben in der Zeit davor und danach
Literatur: Kati Naumanns Roman „Was uns erinnern läßt“ handelt von der Verschleppung einer DDR-Familie
Jörg Bernhard Bilke

Die Verschleppung Tausender Dorfbewohner an der innerdeutschen Grenze, die als „politisch unzuverlässig“ galten, gehört zu den schlimmsten Verbrechen der SED-Diktatur in den vierzig Jahren DDR-Geschichte. Rund 11.000 Grenzbewohner waren bei zwei Zwangsumsiedlungen, die in den Akten unter den Namen „Ungeziefer“ (1952) und „Kornblume“ (1961) geführt wurden, betroffen, in Dutzenden von Dörfern entlang der 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze von Lübeck bis Hof. Dort fuhren, in der Nacht oder den frühen Morgenstunden, Lastkraftwagen, begleitet von Rollkommandos der „Volkspolizei“, vor die Wohnungen der umzusiedelnden „Staatsfeinde“ und befahlen den eingeschüchterten Bewohnern, ihre Habseligkeiten zu packen, in zwei Stunden würden sie weggebracht werden. Das Fahrziel wurde nicht genannt.

Heute, drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, gibt es eine Reihe von Sachbüchern zu diesem Thema, aber noch keinen Roman. Den hat nun die Autorin Kati Naumann geschrieben.

Sie ist 1963, wie ihre Romanheldin Christine Dressel, in Leipzig geboren und verbrachte jedes Jahr ihre Sommerferien mit ihrer Schwester bei den Großeltern, die seit 1952 im Landkreis Sonneberg im Sperrgebiet lebten. Jahrzehnte später suchte sie, inzwischen über 50 Jahre alt, im Thüringer Wald nach Spuren der „verwunschenen Welt ihrer Kindheit“ (Selbstaussage). Für die Schreibarbeit mietete sie ein Zimmer am Rennsteig und befragte Zeitzeugen. Einige von ihnen verschlossen sich jeder Auskunft, andere waren erleichtert, endlich frei über ihre Erlebnisse sprechen zu können. Kati Naumann blieb davon nicht unberührt: Einmal mußte sie auf der Rückfahrt von einer Zeugenbefragung auf der Landstraße anhalten und weinen über das Schreckliche, was sie erfahren hatte.

Der Roman spielt auf zwei Ebenen: In der Gegenwart des Jahres 2017 und in der Erinnerung an die DDR-Jahre 1949 bis 1977. Im Sommer 2017 stößt die Rechtsanwaltsgehilfin Milla aus Coburg bei einer Rennsteigwanderung zufällig auf die von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Reste eines abgerissenen Hauses. Beim Freilegen entdeckt sie eine Kellertür, steigt die Treppe hinunter und gelangt in den unzerstörten Vorratskeller der Hoteliersfamilie Dressel, die mehrere Generationen hier im Hotel „Waldeshöh“ gewohnt hat. Milla gelingt es, die noch lebenden Familienmitglieder, die am 2. Juli 1977 nach Wolfen bei Bitterfeld und nach Meißen verschleppt wurden, ausfindig zu machen und sie zu überreden, noch einmal, trotz aller Aussichtslosigkeit, einen Prozeß um Rückübertragung ihres geraubten Eigentums anzustrengen.

Wenn sich die von DDR-Erfahrungen unbelastete Milla mit den vier erwachsenen Dressels, die die „Umsetzung“ (so der amtliche Begriff) 1977 miterlebt haben, spricht, so merkt sie immer wieder, daß sie ihr Leben in die Zeit „davor“ und „danach“ einteilen. Dieser plötzliche Lebenseinschnitt zieht sich wie ein Leitmotiv durch ihre Gespräche. Er hat sie damals so tief verletzt, daß sie handlungsunfähig geworden sind, was die Rückforderung betrifft, zumal sie schon einmal einen Prozeß verloren haben. Der forschen Bundesbürgerin Milla, die sich in Gesetzestexten und Behördengängen auskennt, gelingt es schließlich, vom Staatsarchiv Meiningen den Bericht der Volkspolizei über die Zwangsaussiedlung vom 2. Juli 1977 zu bekommen.

Intrigen innerhalb der Familie

Schon Jahre vorher wurden die Dressels ständig bedrängt, die Gegend zu verlassen. Da kommt ein Vertreter des „Rates des Kreises“ in Sonneberg und redet ihnen gut zu, den grenznahen Ort zu verlassen, weil das Leben dort zu „gefährlich“ sei; da wird, als 1960 bei Gerda Dressel die Wehen einsetzen, der Einsatz des Krankenwagens verweigert; für Stunden wird das Licht ausgeschaltet; eine Leiter, die zur „Republikflucht“ mißbraucht werden könnte, wird beschlagnahmt; die Kinder müssen von der Schule einen kilometerlangen Umweg gehen, weil der Busfahrer nicht mehr auf freier Strecke halten darf, von wo sie es näher zum Hotel hätten; und als Gerda und Werner Dressel 1956 heiraten, treffen die Passierscheine für die Gäste erst einen Tag später ein.

Doch auch innerhalb der Familie gibt es Intrigen, die aber erst 2017 aufgedeckt werden. So hat Tante Elvira, die nach der Verschleppung in der Porzellanmanufaktur Meißen arbeitete, bei einem Besuch in der Bezirksleitung Suhl der Staatssicherheit dafür gesorgt, daß ihre Familie Haus und Heimat verlor. Das 1904 eröffnete Hotel wurde schon am 3. Juli 1977 abgerissen. Und Werner Dressels engster Freund Siggi arbeitete jahrelang im Grenzgebiet für die „Firma“.

Kati Naumann hat mit ihrem lesenswerten Roman jenen Stummen eine Stimme gegeben, die vom Staat verfolgt wurden und selbst nicht reden können, weil sie wie versteinert sind in ihrem Schmerz.

Kati Naumann: Was uns erinnern läßt. Roman. HarperCollins, Hamburg 2019, gebunden, 416 Seiten, 20 Euro