© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Kräfte der Zerstörung
Kino: Das Historiendrama „Sunset“ von László Nemes spielt in der Zeit der Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn kurz vor dem Ersten Weltkrieg
Dietmar Mehrens

Die Welt von gestern“ nannte Stefan Zweig seine Autobiographie, gemeint war die Welt der untergegangenen k. u. k. Monarchie, in die er hineingeboren wurde und die es nicht mehr gab, als er starb. Diese Welt von gestern, die Welt der Kaffeehäuser, der Fiaker und der extravaganten Damenhüte ist es auch, in die die zweite große Regiearbeit des Ungarn László Nemes führt. Sein Film „Sunset“ ist eine Zeitreise  von beklemmender Intensität. Nemes entführt seine Zuschauer in das pulsierende Budapest kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit dem die Sonne Habsburgs für immer versinken sollte.

Auf Schritt und Tritt folgt eine unnachgiebige Kamera der ebenso unnachgiebigen Íris Leiter (Juli Jakab). Die in einem Waisenhaus aufgewachsene energische junge Frau ist in die ungarische Metropole gekommen, um in dem Hutmachergeschäft, das einst ihren Eltern gehörte und immer noch deren Namen trägt, eine Stelle zu finden. Doch Oszkár Brill (Vlad Ivanov), der jetzige Inhaber, will von Iris nichts wissen. Durch einen zudringlichen Kutscher erfährt Iris von ihrem Bruder Kalman, der nach einer Auseinandersetzung mit Brill untergetaucht ist. Iris begibt sich auf die Suche nach ihm und stößt auf eine Bande von Verschwörern, die der dekadenten Aristokratie den Kampf angesagt haben. Die Filmhandlung gipfelt schließlich in einem rohen Akt der Gewalt, der – mit etwas zu augenfälliger Symbolik – als Vorschatten größeren Unheils verstanden werden will. 

Thematisch schlägt „Sunset“ somit eine ganz ähnliche Richtung ein wie vor zehn Jahren „Das weiße Band“ des österreichischen Filmregisseurs Michael Ha-

neke. Während Haneke jedoch per Dialog die Charaktere seiner Figuren klar herausarbeitet, verläßt sich Nemes auf die suggestive Wirkung von Bild und Ton. Vieles bleibt – buchstäblich – im Dunkeln in dieser ungarisch-französischen Koproduktion. Denn Nemes fühlt sich einer altmodischen Filmkunst verpflichtet, dem Spiel von Licht und Dunkelheit und der „Magie von Physik, Optik und Chemie“, wie der Regisseur selbst es beschreibt. Und genau darin liegt die sagenhafte Faszination von „Sunset“: Der Verzicht auf digitale Effekte und eine stromlinienförmige Dramaturgie zugunsten kompliziert choreographierter und ausufernd langer Szenen vor echten oder nachgebauten Budapester Kulissen verleiht dem Film einen eigenartigen Zauber und man vermeint tatsächlich in diese Welt von gestern einzutauchen.

Eine Parabel auf das Europa von heute?

Gleichzeitig fordert diese eigenwillige Art der Inszenierung dem Zuschauer aber auch eine Menge Geduld ab. Schon mit seinem vielfach preisgekrönten Langfilmdebüt, dem Auschwitz-Drama „Son of Saul“, mit dem Nemes 2016 einen Oscar gewann, stellte der Regisseur unter Beweis, daß er unter Filmemachen etwas sehr anderes versteht als viele seiner Kollegen: radikalen Subjektivismus, ungewöhnliche Blickwinkel und eine eigenwillige Beleuchtungs-Dramaturgie. 

Wenn in der schönen blauen Donau auf einmal eine Leiche schwimmt, wenn Modistinnen schicke neue Kleider bekommen, weil eine von ihnen für den kaiserlichen Hof „ausgewählt“ werden soll, wenn der zwielichtige Szilágyi, eine Figur wie der janusköpfige Lakatos aus Joseph Roths Roman „Beichte eines Mörders“, Iris warnt, daß hier bald alles in Flammen stehen werde, wenn Sätze fallen wie: „Hinter den schönsten Dingen können sich die schlimmsten Greuel der Welt verbergen“, dann wird deutlich, worum es dem Schöpfer von „Sunset“ geht: Der „Selbstmord“ Europas vor hundert Jahren, sagt Nemes, ist ihm ein Rätsel und läßt ihn nicht los. „Es ist, als würde eine Gesellschaft, die auf ihrem Höhepunkt steht, bereits das Gift produzieren, das sie zu Fall bringt.“ Nationale Eigeninteressen, Selbstüberschätzung und ein behäbiger Zentralismus waren es, die die Donaumonarchie ins Verderben stürzten. Und noch etwas anderes, das der Film zum Thema macht: eine Dekadenz, die Sittenlosigkeit nährte und gleichzeitig zu verbergen suchte. 

Ist der Film also mehr als ein authentisches Sittengemälde? Eine Parabel für das Europa von heute? Wie jedes echte Kunstwerk drängt „Sunset“ dem Zuschauer keine Moral auf. Worin heute der Sittenverfall besteht, der damals die Donaumonarchie von innen ausgehöhlt hat, das Gift, das die Zivilisation selbst produziert, darauf muß jeder seine eigene Antwort finden. Eine Parallele aber ist offensichtlich: Viele sehen auch das Europa unserer Tage auf dem Weg zum Vielvölkerstaat.

Regisseur Nemes sagt dazu: „Wir leben in einer Welt, die nicht viel anders ist als die kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Es ist eine Welt, die so gut wie blind für die Kräfte der Zerstörung ist, die sie selbst aus ihrem Inneren heraus nährt. Wir sind nicht weit entfernt   von  den Vorgängen, wie sie in der österreichisch-ungarischen Monarchie stattgefunden haben.“

Ob eine zentral regierte Europäische Union die zukunftsfähige Fortführung des Modells Österreich-Ungarn mit anderen Mitteln wäre oder der Selbstbehauptungsinstinkt der Nationen die Oberhand behält, ob ein föderaler Europastaat auf die politische Agenda von heute gehört oder ins Reich der Hirngespinste und Utopien – das muß der Zuschauer mit sich selbst ausmachen. „Sunset“ kann nur auf das verweisen, was vor hundert Jahren Geschichte geworden ist: Der Film endet mit einer langen Kamerafahrt durch die Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Da leuchtete die Sonne Habsburgs nicht mehr.