© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Sand und Schmiermittel im Getriebe
Kleine Opern – weiter nichts? Zum 200. Geburtstag des französischen, jüdischen und so ganz und gar nicht deutschen Komponisten Jacques Offenbach
Jens Knorr

Jeder Opern-Liebhaber kennt die Barcarolle, das venezianische Gondellied aus Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, den Galop infernal, den „Höllen-Cancan“, aus „Orpheus in der Unterwelt“, vielleicht die postume Zusammenstellung von Stücken zu dem Ballett „Gaîté Parisienne“ oder einige der Couplets, letztere insbesondere als Domäne deutscher Knallchargen. Aber kennt man sie wirklich? Offenbach hat die Musik seiner Barcarolle, die manchen Hörern als Inbegriff von Venedig gilt, dem

Feenreigen seiner erfolglosen Oper „Die Rheinnixen“ entnommen. Gleich, ob sie in deutsch-französischem Grenzfluß schwimmen oder auf den Kanälen der Lagunenstadt gondeln: Offenbachs Verführerinnen teilen sich in dieselben Melodien.

Man kennt für das deutsche Ohr zugerichtete Gesamtaufnahmen und Querschnitte, aber den deutschen Juden Jakob Offenbach aus Köln, der sich seit seiner ersten Pariser Zeit Jacques nannte, den kennt der deutsche Theatersesselbesetzer kaum. Er bevorzugt nach wie vor jene Sorte Wiener, Budapester und Berliner Operette, die er der silbernen oder bronzenen Ära zurechnet, und meidet die der goldenen.

Das hat, zum ersten, mit dem Verbot Offenbachs im Dritten Reich zu tun. Das hat, zum zweiten, mit „Offenbachs Sprachbehandlung“ zu tun, wie Paul Bekker in seiner Monographie von 1909 erkannt hat. Die „Feinheiten der Diktion“, die „überraschende Anschmiegsamkeit, mit welcher sich Offenbachs Musik dem Text verbindet“, erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen stimmige deutsche Übersetzungen und erfordern letztlich Neufassungen. Diese Schwierigkeit aber hat, zum dritten und vor allem, mit Offenbachs Verankerung in seiner Zeit zu tun, genauer: in dem Paris seiner Zeit, um an den Titel der „Gesellschaftsbiographie“ von Siegfried Kracauer zu erinnern.

Er pachtet ein Theater für seine Stücke

Im Second Empire des Louis Napoleon findet der am 5. Juli 1819 als Sohn eines Buchbinders, Musikanten und Synagogen-Kantors in Köln geborene Offenbach den Nährboden für seine satirischen Operetten. Vom Vater für ein besseres Fortkommen nach Paris gegeben, studiert Jacques Cello am Konservatorium, das er ohne Abschluß verläßt, und danach Komposition bei Halévy. Er arbeitet als Orchestermusiker an der Opéra-Comique. Friedrich von Flotow führt ihn in die Pariser Salons ein, wo er als „Liszt des Violoncello“ reüssiert. Das Finale des Richmond-Akts, das einzige halbwegs erträgliche Stück in Flotows Oper „Martha“, soll von Offenbach sein. Vor der 1848er Revolution flieht Offenbach samt Familie vorübergehend nach Köln. Zurückgekehrt tritt er 1849 eine Stelle als Kapellmeister am Théâtre-Français an und gibt sie 1855 auf.

Am 5. Juli 1855, anläßlich der Weltausstellung, pachtet Offenbach ein leerstehendes Theater für seine Stücke und eröffnet hier sein Theâtre des Bouffes-Parisiens. Er schreibt „musiquettes“, der Konzession entsprechend mit drei Sängern besetzt, nach Umzug des Theaters in geräumigere Spielstätte mit vier Sängern. Nachdem die Behörde 1858 die Aufführung mehraktiger Werke zuläßt, hat als erstes abendfüllendes Werk die Opéra bouffe „Orphée aux enfers“ Premiere, das „Initialwerk“ (Volker Klotz). In engster Zusammenarbeit mit den Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy folgen 1864 „La Belle Hélène, 1866 „Barbe-Bleue“ und „La vie parisienne“, 1867 „La Grande-Duchesse de Gérolstein“, 1869 „Les Brigands“, 1874 „La Périchole“, Meisterwerke allesamt.

Komponist des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich

Offenbach ist Theaterdirektor, Dirigent, Regisseur, Hauskomponist in Personalunion. Nach Zusammenbruch des Kaiserreiches und Konstituierung der Zweiten Republik wird Offenbachs Operette anachronistisch. Sein erst 1873 übernommenes Théâtre de la Gaîté muß er 1875 schließen. Er feiert kurzlebige Erfolge mit einigen zu revuehaften Feerien ausgebauten Werken und arbeitet an einer neuen Oper: „Hoffmanns Erzählungen“, deren Uraufführung 1881 er nicht mehr erlebt. Am 5. Oktober 1880 stirbt er in Paris.

Das Second Empire mit einem „prinzlichen Lumpenproletarier“ an der Spitze, der von „den widersprechenden Forderungen seiner Situation gejagt, zugleich wie ein Taschenspieler in der Notwendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich als den Ersatzmann Napoleons gerichtet zu halten, also jeden Tag einen Staatsstreich en miniature zu verrichten, (…) die ganze bürgerliche Wirtschaft in Wirrwarr“ bringt , alles antastet, „was der Revolution von 1848 unantastbar schien“, (…) die einen revolutionsgeduldig, die anderen revolutionslustig“ macht und „die Anarchie selbst im Namen der Ordnung“ erzeugt, „während er zugleich der ganzen Staatsmaschine den Heiligenschein abstreift, sie profaniert, sie zugleich ekelhaft und lächerlich macht“ – alles das hat Marx in seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) als weltgeschichtliche Farce beschrieben. Es mußte nur noch komponiert werden, und Offenbach war sein Komponist.

Hier ist nicht Platz, die inneren Widersprüche von Marxens sprachgewaltigem Text zu diskutieren, doch wird man seine Analyse der Umstände und Verhältnisse heranziehen müssen, „welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen“, um die schöpferische Leistung Offenbachs und seine Aktualität zu begründen.

Die erschöpft sich keineswegs in der parodistischen Behandlung selbst schon Parodie gewordener gesellschaftlicher Verhältnisse. Gäbe man der Versuchung nach, die Operettengesellschaft des Second Empire mit heutiger Welt- und Provinzgesellschaft zu analogisieren, bliebe das Ergebnis doch erkenntnisfrei, aber – immerhin – tageswitzig. Brauchte das Kapital zu Marxens und Offenbachs Zeiten noch Charaktermasken, so scheint es heuer weder Charakter noch Masken zu brauchen, um seine Interessen durchzusetzen, den demokratischen Staatsstreich allerdings. Spielte der dritte Stand Adel, simuliert intellektuelles Prekariat Politik im nachpolitischen Raum, wissentlich die einen, unwissentlich die andern: vom Pariser Leben zur lumpigen Berliner Farce. Doch Parodie setzt gesellschaftliche Substanz des Parodierten voraus, ihr Fehlen verunmöglicht sie. Mit dem Zeitalter der Tragödie endet das Zeitalter der Farce. Künstlerische Darstellung sieht sich zurückgeworfen aus der Welt Offenbachs auf die Welt Lortzings, des „Offenbach unter deutschen Zuständen“ (Georg Knepler) und darunter. Minister mit erschlichenen Doktortiteln fallen seit je in den Arbeitsbereich späterer Operette.

Die Aktualität der Offenbachiade schöpft vielmehr aus ihren Produktionsverhältnissen, die sie auf dramaturgisch-musikalischer Ebene durchaus auch thematisiert. Offenbach bedient den Markt mit allem, was der Markt bietet – „Derivate französischer Melodik und kölnischer Gassenlieder, deutscher Romantik, gebräuchlicher Tanztypen und auch erinnerten Synagogalgesangs“ (Ulrich Dibelius) –, und mischt es neu ab. Der Vielverwerter schafft ein Räderwerk aus Text, Musik, Handlung, die einander permanent kommentieren, widerlegen, aufheben und alles in allem perfekt ineinandergreifen.

Nur abstellen kann das Lebendige das Mechanische nicht, an das es sich ausgeliefert hat. In den „Mesdames de la Halle“ lassen Librettist und Komponist ganzaktig im unklaren, wer denn nun eigentlich die Handlungsträger sind, die Marktweiber oder ihre verkäufliche Gemüseware, und überhaupt, wer Mann ist, wer Frau. In „La vie parisienne“ leiden nicht allein Baron und Baronin de Gondremarck aus dem kalten Schweden, sondern alle Figuren unter dem Zwang, sich zu Tode amüsieren zu müssen, und diesen Zwang diktiert ihnen die Musik, auch und gerade immer dann, wenn sie glauben, daß es die ihre wäre.

Dem Theaterbetrieb fehlt es an Verständniswillen

Mehr noch als für die tagespolitische Oberfläche fehlte und fehlt es im aktuellen Theatergeschäft an Verständniswillen für die hier nur angerissenen musikalisch-dramaturgischen Untergründe des Offenbachschen Musiktheaters. Daran vermochten entschärfte Fassungen von Max Reinhardt bis Walter Felsenstein wie verschärfte von Karl Kraus bis Elfriede Jelinek, szenische Versuche von Peter Konwitschny mit zweien von Offenbachs verrückten Einaktern (1986), Alexander Lang und Christoph Mar-thaler mit „La vie parisienne“ (1997 bzw. 1998), Michael Höppner mit den „Mesdames de la Halle“ (2012) und gewiß noch einige weitere in den letzten Jahrzehnten kaum etwas zu ändern. Von einer Offenbach-Renaissance sind wir entfernter denn je.

Wenig besser steht es um „Les contes d’Hoffmann“, die nach „Carmen“ meistaufgeführte französische Oper, von der Aufführungsstatistik einmal abgesehen. Seinen Operetten entwachsen, legt sie den Verblendungszusammenhang frei, denen seine Operetten entwuchsen. Die Montage des Frauenkörpers zu Lustmaschine, Lustinstrument und Lustkörper, an die Mann Verstand, Gefühl und zuletzt noch Potenz verliert und die er demontieren muß, will er sie besitzen, hat der Chronist der industriellen Revolution in Deutschland Hoffmann nüchtern beschrieben und der Chronist des französischen Hochkapitalismus den Schmerz darüber lustvoll auskomponiert, bis zur unsagbar süßen Neige. Doch anstatt Offenbachs radikale Negation des Orpheus-Mythos auf die Bühne zu bringen, begnügen sich Regisseure allermeist mit Versatzstücken aus der psychoanalytischen Kramkiste und Tenöre mit weinerlicher, schluchzender Künstler-Attitüde.

Entgegen Paul Bekkers Befürchtung ist uns das, was man einst Offenbach-Stil nannte, nicht ganz verlorengegangen. Vor allen anderen haben Franzosen ihn bewahren und weitertragen können. Die Bemühungen von René Leibowitz, Igor Markévitch, André Cluytens setzten in neuerer und neuester Zeit Michel Plasson, Sylvain Cambreling und Marc Minkowski fort.

Offenbachs Musik, ernstgenommen, ist Sand in dem und Schmiermittel für das Getriebe des automatischen Subjekts. Hat dieses sich fest-, weil fettgefressen, dann klingt aus seinem tiefen Innern Metellas Brief-Arie, wenn Sophie Rois sie singt, oder die Schwips-Arietta der Périchole, wenn Claudia Novikova sie singt, oder aus noch tieferer Tiefe der lechzende Ruf nach Liebe des ehemaligen Prinzen von Arkadien, gleich wer das Couplet singt, herauf. Bevor dann das Getriebe nochmals anläuft, wie geschmiert.

Informationen zum Offenbach-Jubiläumsjahr gibt es unter anderem bei der Kölner Offenbach-Gesellschaft e. V. sowie der Jacques-Offenbach-Gesellschaft e. V. Bad Ems

 www.koelner-offenbach-gesellschaft.org  www.j-o-g.org