© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Bitcoin und Blockchain verändern Wirtschaft und Gesellschaft
Dezentral ist besser
Aaron Koenig

Ein wichtiger Vorteil dezentraler Systeme ist die Tatsache, daß es niemanden gibt, der Daten über die Nutzer des Systems sammeln und für seine Interessen mißbrauchen kann. Der Autor Yuval Noah Harari warnt in seinem Buch „Homo Deus“ vor der Gefahr der „Datenreligion“, bei der datengestützte Algorithmen unser Leben steuern und die Unternehmen, die über unsere Daten verfügen, allmächtig werden. Die wirkungsvollsten Gegenmittel gegen diese Dystopie sind die Verschlüsselung aller Daten und die Dezentralisierung der digitalen Netze.

Das Internet ist nämlich nur auf der grundlegenden Ebene des TCP/IP-Protokolls dezentral. Vieles, was darauf aufbaut, ist zentralisierter Natur, etwa die Vergabe von Domain-Namen oder die herkömmliche Client-Server-Infrastruktur. Die Server spielen dabei eine wichtigere Rolle als die Client-Rechner der normalen Nutzer, denn auf den Servern liegen die Informationen, auf die die Clients zugreifen. Wenn die Regierung verhindern möchte, daß sich bestimmte Informationen verbreiten, ob Musikdateien oder regierungskritische Dokumente, kann sie gegen die Server vorgehen, auf denen diese gespeichert sind.

Wesentlich schwerer anzugreifen sind sogenannte Peer-to-Peer-Netzwerke, also „Netzwerke von Gleichrangigen“. Bei ihnen ist die Trennung zwischen sendenden Servern und empfangenden Clients aufgehoben. Jeder an das Netzwerk angeschlossene Rechner ist Sender und Empfänger zugleich. Daten werden nicht auf wenigen Servern gespeichert, sondern können grundsätzlich auf jedem angeschlossenen Rechner liegen.

Ein gutes Beispiel für die Vorzüge der Dezentralisierung sind Filesharing-Dienste, über die man digitale Musikdateien tauschen kann. Napster war Ende der 1990er Jahre der erste erfolgreiche Filesharing-Dienst. Der Musikindustrie war das natürlich ein Dorn im Auge, so daß sie gerichtlich gegen Napster vorging. Napster konnte leicht stillgelegt werden, denn es war zentralistisch aufgebaut: Die Musikdateien lagen auf einem Server. Den mußte man nur abschalten – schon war der Dienst tot.

Die Nachfolger Napsters wie Gnutella, Kazaa oder BitTorrent setzen daher auf das Peer-to-Peer-Prinzip. Sie kommen ohne zentrale Server aus, die Daten liegen auf vielen verschiedenen Rechnern. Um den Dienst zu stoppen, müßte man sie alle stillegen, was so gut wie unmöglich ist. Wir wissen, daß sich das Satoshi-Nakamoto-Team den Fall Napster genau angesehen hat: „Regierungen sind gut darin, die Köpfe von zentral kontrollierten Netzwerken wie Napster abzuschlagen“, schrieb Satoshi im November 2008. „Aber reine P2P-Netzwerke wie Gnutella und Tor scheinen ihre zu behalten.“ Bitcoin legt sich mit noch viel mächtigeren Gegnern an als der Musikindustrie, nämlich mit Banken und Regierungen. Da ist es von Vorteil, möglichst unverwundbar zu sein.

Es geht um eine bessere Welt, die mehr Freiheit für jeden einzelnen ermöglicht. Bitcoin und die Blockchain-Technologie sind Mittel, um dies zu erreichen. Ihre dezentrale Struktur verhindert, daß sie von irgendwem kontrolliert oder manipuliert werden können. 

Die Macht über das Geld zu haben, ist für die Regierenden dieser Welt eine wichtige Grundlage ihrer Herrschaft. Das war bei Königen, die Münzen mit ihrem Bild prägten und die Menschen zwangen, ihre Steuern damit zu zahlen, nicht anders als in heutiger Zeit. Regierungen mögen es gar nicht, wenn ihr Geldmonopol in Frage gestellt wird, und gehen gegen private Konkurrenten mit brutaler Härte vor. Als die 1996 gegründete Firma e-Gold erste Erfolge mit einem goldgedeckten digitalen Zahlungssystem hatte – auf ihrem Höhepunkt 2008 liefen Zahlungen im Wert von über zwei Milliarden Dollar darüber –, ließ die US-Regierung die Gründer und Geschäftsführer verhaften wegen „Geldwäsche“ und des „unlizenzierten Betriebs eines Money Transmitters“. Die Köpfe der Schlange wurden abgeschlagen, und e-Gold war tot.

Aus gutem Grund ist Satoshi Nakamoto daher bis heute anonym geblieben. Bitcoin hat keinen Kopf, den man abschlagen könnte. Die Mitglieder des Kernteams, das die Software weiterentwickelt, sind ersetzbar. Würde man sie verhaften, könnten schnell andere an ihre Stelle rücken. Eine Grundidee bei Bitcoin ist, daß man niemandem vertrauen muß, keiner Bank, keiner Betreiberfirma, auch nicht Satoshi Nakamoto. Der Bitcoin-Code ist frei zugänglich und kann von jedem, der über die nötigen Kenntnisse verfügt, kontrolliert und verbessert werden.

Im heutigen System ist das Geld auf unserem Konto rein rechtlich Eigentum der Bank. Wir müssen hoffen, daß sie es tatsächlich wieder herausgibt, wenn wir es wollen. Doch oft genug stehen Menschen in Krisenzeiten vor geschlossenen Bankschaltern oder leeren Geldautomaten. Bankkonten können eingefroren und beschlagnahmt werden, und wenn es die Regierung beschließt, werden unsere Ersparnisse kurzerhand abgewertet.

Satoshi Nakamoto schreibt dazu: „Das Kernproblem von konventionellen Währungen ist das Vertrauen, das man braucht, damit sie funktionieren. Man muß der Zentralbank vertrauen, daß sie die Währung nicht abwertet, aber die Geschichte der Fiat-Währungen ist voll von Fällen, in denen dieses Vertrauen mißbraucht wurde. Man muß den Banken vertrauen, die unser Geld verwahren und auf elektronischem Weg transferieren, aber sie verleihen es und schaffen damit Kreditblasen, von denen nur ein Bruchteil als echte Geldreserve vorliegt (…).

Vor einer Generation hatten Computersysteme, die von mehreren Nutzern geteilt wurden, ein ähnliches Problem. Bevor es wirkungsvolle Verschlüsselung gab, mußten die Nutzer dem Systemadministrator vertrauen, daß er ihre Information wirklich privat hielt. Die Privatheit konnte vom Admin jedoch immer übergangen werden, wenn er andere Belange als wichtiger einschätzte, oder wenn seine Vorgesetzten es ihm vorschrieben. Als die Verschlüsselungstechnologie allgemein verfügbar wurde, war dieses Vertrauen nicht mehr notwendig. Daten konnten auf eine Weise geschützt werden, die es anderen physisch unmöglich machte, an sie heranzukommen, egal mit welcher Begründung. Es wird Zeit, daß wir das gleiche für Geld einführen.“

„Zentralistisch“ zu sein ist in der Kryptowelt geradezu ein Schimpfwort. Jeder versucht, seinen Coin, seinen Token oder sein Softwareprojekt als möglichst dezentral darzustellen. Überall begegnet man klangvollen Schlagwörtern wie dezentrale Börse, dezentrale Anwendungsprogramme oder Dezentrale Autonome Organisation (DAO). Es geht hier offensichtlich um mehr als um die technische Entscheidung darüber, welche Netzwerkstruktur sich für welchen Anwendungsfall am besten eignet. Für viele Fälle kann eine zentrale Lösung ja durchaus schneller, günstiger und effizienter sein als eine dezentrale.

Wir haben es hier vielmehr mit einer politisch-philosophischen Einstellung zu tun, bei der Dezentralisierung per se als etwas Gutes angesehen wird. Auffällig viele Krypto-Enthusiasten sind von ihrer politischen Einstellung her libertär. Sie mißtrauen zentralen Autoritäten und wünschen sich möglichst große individuelle Freiheit. Sie stehen sowohl staatlicher Gewalt als auch der Macht einiger weniger Großunternehmen skeptisch gegenüber.

Diese Überschneidung von Kryptoszene und Libertarismus ist kein Zufall. Liest man das Bitcoin-Whitepaper sowie die zahlreichen Blogposts und E-Mails von Satoshi Nakamoto (praktisch zusammengefaßt in „The Book of Sato­shi“), wird klar, daß schon das Satoshi-Team aus Libertären bestand. Das Prinzip der Freiheit durchdringt jede Zeile des Programmcodes. Es geht bei Bitcoin um viel mehr als um die Schaffung eines effizienten globalen Zahlungssystems. Es geht um eine bessere Welt, die mehr Freiheit für jeden einzelnen ermöglicht. Bitcoin und die Blockchain-Technologie sind Mittel, um dies zu erreichen. Ihre dezentrale Struktur verhindert, daß sie von irgendwem kontrolliert oder manipuliert werden können.

Die Vorteile dezentral aufgebauter Staaten sind offensichtlich. In ihnen lebt es sich für die Menschen deutlich besser. Man wird nicht von einer weit entfernten, zentralen Macht gegängelt, sondern kann selbst an Entscheidungen vor Ort teilhaben.

Auf der politischen Ebene sind die Vorteile einer dezentralisierten Ordnung offensichtlich. Während zentralistisch aufgebaute Staaten effizienter in der Organisation von Kriegen und der Vernichtung unerwünschter Volksgruppen sind, lebt es sich für die Menschen in dezentral aufgebauten Staaten deutlich besser. Man wird nicht von einer weit entfernten, zentralen Macht gegängelt, sondern kann selbst an Entscheidungen vor Ort teilhaben. Extreme Beispiele sind auf der einen Seite die Sowjetunion, in der selbst über kleinste Details zentral in Moskau entschieden wurde, und auf der anderen Seite die Schweiz, in der die meisten Entscheidungen auf der Ebene der Kommunen und Kantone getroffen werden und jeder Bürger nicht nur Abgeordnete wählen, sondern über Sachfragen abstimmen kann. Auch wenn die Leistungen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und in der Weltraumfahrt unbestritten sind, würde wohl jeder lieber in der Schweiz als in der Sowjetunion leben.

Es ist kein Zufall, daß viele der bedeutendsten Musiker, Dichter, Künstler, Wissenschaftler und Philosophen aus dem Deutschland des 17. bis 19. Jahrhunderts stammen. Deutschland bestand damals aus vielen Kleinstaaten, die um die besten Talente miteinander konkurrierten. Jeder Fürst wollte das beste Theater und die beste Universität in seiner Hauptstadt haben. Er konnte es sich jedoch nicht leisten, seine Untertanen zu sehr zu kontrollieren und zu unterdrücken, denn das nächste Fürstentum war leicht zu erreichen. Waren die Zustände in einem Fürstentum nicht akzeptabel, war es relativ einfach, in ein freieres umzusiedeln. In einem solchen Umfeld des Wettbewerbs konnte die Kreativität blühen. Deutschland wurde zum „Land der Dichter und Denker“.

Johann Wolfgang von Goethe war daher entschiedener Gegner einer staatlichen Einheit Deutschlands: „Mir ist nicht bang, daß Deutschland nicht eins werde“, sagte er. „Es sei eins, daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. (…). Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. Frankfurt, Hamburg, Bremen, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland sind gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe meine Ursache, daran zu zweifeln.“

Es ist auch kein Zufall, daß sich ausgerechnet in Europa ab dem 15. Jahrhundert sehr viel mehr Wohlstand und politische Freiheit entwickelte als im Rest der Welt. Europa bestand aus vielen kleinen, miteinander konkurrierenden Staaten. In China beendete im 15. Jahrhundert die Fehlentscheidung des Kaisers, nicht weiter in die Seefahrt zu investieren, die Dominanz der chinesischen Flotte auf den Weltmeeren. Dies machte den Weg für die Europäer frei, die Welt zu erobern. Vor allem Portugiesen, Spanier, Niederländer und Engländer konkurrierten um die besten Handelsverbindungen. Hätte in einem dieser Staaten ein unfähiger König die Seefahrt verboten, wären sofort andere Europäer eingesprungen. Noch wichtiger für den Wohlstand in Europa war der Wettbewerb der Ideen, Erfindungen und Innovationen, der in einem Ökosystem kleiner Einheiten sehr viel besser funktioniert als in einem zentralistisch regierten Großreich, in dem neue Ideen viel leichter unterdrückt werden können.






Aaron Koenig, Jahrgang 1964, ist Unternehmer, Berater und Buchautor („Bitcoin. Geld ohne Staat“). Er hat Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation mit Schwerpunkt Audiovisuelle Kommunikation an der Universität der Künste Berlin und der Universidade Federal Fluminense Rio de Janeiro studiert. Seine Firma Private Key berät beim Erwerb und sicheren Speichern von Bitcoins und beim professionellen Einsatz von Blockchain-Technologie.

 www.privatekey.biz

Aaron Koenig:  Die dezentrale Revolution. Wie Bitcoin und Blockchain Wirtschaft und Gesellschaft verändern, FinanzbuchVerlag, München 2019, Softcover, 224 Seiten, 16,99 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein Auszug aus dem Buch, das am 19. Juni erscheint.

Foto: Netzwerke von Gleichrangigen: Auffällig viele Krypto-Enthusiasten sind libertär. Sie mißtrauen zentralen Autoritäten und wünschen sich möglichst große individuelle Freiheit. Sie stehen sowohl staatlicher Gewalt als auch der Macht einiger weniger Großunternehmen skeptisch gegenüber