© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Autonomie unter Vorbehalt
Politisch-korrekte Museumswächter: Linke Kulturkämpfer wollen der Kunstfreiheit Grenzen setzen
Felix Dirsch

Autonomie ist ein wesentliches Merkmal der modernen Kunst. Gerade die Gegenstandslosigkeit macht sie zum selbstreferentiellen Unternehmen, ein aus eigenen Mitteln konstruiertes Zeichensystem, das häufig nur dem Künstler selbst unmittelbar zugänglich ist, ansonsten aber „Perplexion“ (Arnold Gehlen) erzeuge. Einer der wichtigsten Verfechter der Kunstautonomie im vergangenen Jahrhundert, der US-Kulturkritiker Clement Greenberg, konstatierte den Verlust eines generellen Formenrepertoires: „Alle Gewißheiten, die sich aus Religion, Autoritäten, Tradition und Stil ergeben, werden in Frage gestellt, und der Schriftsteller oder Künstler ist nicht mehr in der Lage, die Reaktionen des Publikums auf die Symbole und Referenzen, mit denen er arbeitet, vorauszusagen“.

Der Weg der verselbständigten Sphäre des Ästhetischen, so ein erst später üblicher Begriff, führt von ersten Anfängen in der Renaissance zu ihrem vorläufigen Höhepunkt in der „liberalen Kunst“ (Kurt Bauch) des 19. Jahrhunderts. Linke und Liberale, die sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen und Bastionen von Religion, Autoritäten, Traditionen und überlieferten Stilen schleifen wollen, schwingen sich zu Befürwortern der Autonomie des Künstlers auf. Diejenigen, die sie praktizieren, betrachten es zu allen Zeiten als wichtigste Aufgabe, von konkreten Realitäten zu abstrahieren, diese zu kritisieren und womöglich zu universalisieren. 

Daran läßt sich auch in der aktuellen Debatte anknüpfen. Sind es nicht die Konservativen, die sich über ortlose, global vernetzte „Anywheres“ ereifern und im Gegensatz dazu auf die Notwendigkeit von konkreten Identitäten, etwa überschaubare heimatliche Gefilde, verweisen? Die alten Frontbildungen sind scheinbar noch nicht verschwunden.

Und doch ist auch auf diesem Feld einiges ins Rutschen geraten. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich verfaßte unlängst in der Wochenzeitung Die Zeit (16. Mai 2019) einen „Auf dunkler Scholle“ überschriebenen Beitrag, der eine aus seiner Sicht paradoxe Entwicklung beschreibt: Danach träten rechts gesinnte Künstler als Verteidiger der Kunstfreiheit auf. Die Bilder des Dresdner Malers, Publizisten und JF-Autors Sebastian Hennig inspiziert Ullrich genau und sieht auf ihnen „eher schöne Landschaften und Stilleben als nackte Menschen“. Dennoch sei nicht Entwarnung geboten. Der frühere Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe beklagt die Instrumentalisierung der Kunstfreiheit durch Hennig, in dessen Schriften er „Haß auf alles Linke und Multikulturelle“ entdeckt. Als „Rechtsaußen-Version“ der Kunstautonomie moniert Ullrich bei dem „Pegida-Versteher“ die Tendenz, das „Eigene und Schöne heroisch-männlich zu verteidigen“. Da haben wir sie also, die rechte Ästhetik!

Weiterhin nimmt Ullrich bei dem Neoexpressionisten Neo Rauch eine politische Interpretation vor. Beäugt wird etwa dessen Bild „Vaters Acker oder Fremde“. Liegt hier nicht schon im Titel der Verdacht vor, jemand wolle an die unselige „Blut-und-Boden-Tradition“ anknüpfen? Das sagt der Deuter zwar nicht, wohl aber insinuiert er es, obwohl er zugleich feststellt, Rauchs Kunst könne nicht einfach mit seinen politischen Überzeugungen in Verbindung gebracht werden. Die Zweifel bei der Kritik sind offenkundig.

Mit Axel Krause gerät ein weiterer Künstler, der sich auf die Zweckfreiheit seiner Schöpfungen beruft, unter Verdacht. Ullrich kommt nicht umhin zuzugeben, daß auch Krause Kunst und politische Meinung voneinander trennt. Das „Böse“ besteht auch bei ihm in nichts anderem als in der Gesinnung. Das Werk ist im Grunde genommen also harmlos. Ullrich hätte Krauses Bild „Schläfer“, auf dem kleine Kinder auffallen, als Aufforderung zu einer pronatalistischen Politik entschlüsseln können. Soweit ist er dann doch nicht gegangen.

Der Leiter des Kulturressorts der Zeitung Die Tagespost, Alexander Riebel, unterzieht Ullrichs Thesen einer akribischen Prüfung („Gehört Autonomie der Kunst der Linken?“ vom 29. Mai 2019) und resümiert, daß dessen Alarmismus als ideologische Vernebelung, ja sogar als „Versuch der Zensur“ gelten müsse. Ein erfreulich klares Urteil!

Ein anderer Zeit-Autor, Hanno Rauterberg, findet nichts von dem, das er eigentlich belegen will. In seiner 2018 erschienenen Studie „Wie frei ist die Kunst?“ (JF 7/19) konstatiert er eine „Krise des Liberalismus“. Weil er keine Anzeichen dafür sieht, daß das wesentliche Symptom dieser Krise, der Aufstieg von Rechtspopulisten, zur Einschränkung der Kunstfreiheit führt, unterstellt er ihnen, sie träumten von einer solchen Limitierung. Wie er zu diesen Introspektionen gelangt, verrät er aber nicht. Statt seine These zu untermauern, thematisiert Rauterberg wortmächtig, daß die Autonomie der Kunst von anderer Seite unter Druck gerät. So erörtert er unter anderem ein umstrittenes Postulat von drei antidiskriminierungsbeseelten Studentinnen der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Sie forderten lautstark, Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ an der Fassade des Gebäudes zu übermalen. Frauen, so hieß es, dürften nicht klischeehaft für Männer schöne Musen verkörpern. Die Protestierenden assoziierten damit sogleich die alltäglichen sexistischen Belastungen, denen Frauen ausgesetzt seien. Der Akademische Senat stimmte schließlich nach hitzigen Diskussionen für die Entfernung des Werks.

Auch an anderen Beispielen wird der Einfluß von Vertretern des postmodernen Liberalismus deutlich. Ihnen geht es weniger um die Rechte des Individuums; vielmehr möchten sie auf die Anliegen von vermeintlich ausgegrenzten Minderheiten aufmerksam machen und im Einzelfall – soweit möglich – sogar Bevorzugungen („positive Diskriminierung“) der betreffenden Gruppen erreichen. Neben Frauen spielen Homosexuelle und Kinder dabei eine wichtige Rolle. Von dem Maler Balthasar Klossowski de Rola, genannt Balthus, ist im Metropolitan Museum in New York ein Bild zu sehen, das ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren darstellt. Ihr Rock ist hochgerutscht, so daß des Betrachters Blick auf die Unterhose fällt. Gegen eine solche angeblich sexistische Perspektive richtete sich bald eine Online-Petition, die ihr Ziel allerdings verfehlte. Das Gemälde verblieb an seinem Ort. So die gute Nachricht für die Freiheit der Kunst. Die alte und nie geklärte, wohl auch allgemein nie zu klärende Frage wird in diesem Kontext von neuem aufgeworfen: Was darf Kunst und wo liegen ihre Grenzen, wenn es überhaupt welche gibt?

Drohten Künstler über Jahrhunderte hinweg Einschränkungen ihrer Autonomie seitens weltlicher und kirchlicher Auftraggeber, so sind es heute eher die Gesinnungswächter der linksliberalen Politischen Korrektheit, die sich nicht selten hinter medialen Kampagnen wie #MeToo verbergen und Gedichte- wie Bilderstürmerei betreiben. Dem Künstler kann es freilich egal sein, von welcher Seite und aus welchen Gründen er attackiert wird. Für ihn gibt es echte Autonomie nur ohne Vorbehalt.