© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

CD-Kritik: Karl Böhm, Staatskapelle Dresden
Schubert entgratet
Jens Knorr

Der „Weg der heutigen Musik“ bestehe in „Entsentimentalisierung“, schrieb Karl Böhm, Generalmusikdirektor der Dresdner Staatsoper von 1934 bis 1942 und für ein bißchen länger als für diesen Zeitraum deutscher, davor und danach österreichischer Dirigent. An seine Prämisse hat sich Böhm zeitlebens gehalten. Das bestätigen die Rundfunkaufnahme von 1942 mit Franz Schuberts Symphonie Nr. 5 B-Dur D 485, die erste Magnetbandaufzeichnung der Dresdner Staatskapelle überhaupt, wie auch die des Dresdner Abschiedskonzerts von 1979 mit der Symphonie h-Moll D 759, der „Unvollendeten“, und der Symphonie C-Dur D 944, der „Großen“.

Böhm und die Kapelle zeigen entgratete und geschliffene Oberflächen vor: mit patriarchaler Geste die der Jugendsinfonie, als vollkommene die der unvollkommenen und von repräsentativem Zuschnitt die der „Großen“. Indem er die Partituren musikantisch durchbuchstabieren läßt, schützt sich Böhm vor den Zumutungen des Komponierten. Vielleicht rührt sein sentimentales Verhältnis zu den Dresdnern daher, daß sie von sich aus einiges von dem dazugegeben haben, das Hubert Fichte als „Empfindlichkeit“ beschrieben hat.

Als Interpretationen sind die Aufnahmen den Weg alles Zeitlichen gegangen; als Betonsarkophag über das Innenleben eines Orchesterführers gehört, vermögen sie zu durchschüttern.

Karl Böhm Sein Dresdner Abschiedskonzert 1979 Profil Edition Günter Hänssler 2019  haensslerprofil.de