© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Konkurrenten sind unerwünscht
An das Gestern klammern: Viele Westdeutsche pflegen einen künstlichen Verfassungspatriotismus und haben Angst vor politischen Veränderungen
Eberhard Straub

Jedem einzelnen wird dringend geraten, viel zu wagen, um viel zu gewinnen, nicht stehenzubleiben, sondern stets im Aufbruch zu neuen Ufern kein Risiko zu scheuen, weil das Leben den bestraft, der zaudert und sich verspätet. Alles befindet sich im Fluß. Im ununterbrochenen Werden gibt es keinen Stillstand. Wer rastet, der rostet.

Erstaunlicherweise wird Wandel jedoch mißbilligt und gar verdächtig gemacht, sobald es um die politische Verfassung im weitesten Sinne geht. Wahrhafte und wehrhafte Demokraten rufen jeden Verfassungspatrioten dazu auf, solche Kräfte sehr genau zu beobachten, die von einem notwendigen Systemwandel reden, den herkömmlichen Parteien nicht mehr vertrauen oder auf unkonventionelle Bewegungen im öffentlichen Leben hoffen, weil sie unverwechselbare Temperamente und geistige Überraschungen in der allgemeinen Übersichtlichkeit vermissen. 

Wer an ein anderes Europa denkt, wird als unverbesserlicher Nationalist und Feind des europäischen Projektes aus der Gemeinschaft der Anständigen ausgestoßen. Wer sich ein anderes Deutschland wünscht, gilt gleich als Verfassungsfeind, und wer an den Lebensformen und ihrer authentischen Unbefangenheit in „unserer“ Konsumgesellschaft und Wertegemeinschaft wenig Gefallen findet, muß sich sagen lassen, griesgrämige Kulturkritik zu treiben und hochmütig auf die gut gelaunte Massengesellschaft herabzuschauen, also ein Spielverderber und schlechter Demokrat zu sein. Denn wir leben nun einmal im freiesten und liebenswürdigsten Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat, wie es unermüdlich heißt. Wir haben das Ziel unserer Unheilsgeschichte in der Bundesrepublik erreicht, die von allen deutschen Übeln erlöst und mit dauernder Verwestlichung als Erziehungsprogramm dafür sorgt, daß Deutsche nie wieder von ihrer Bestimmung abweichen, Westdeutsche zu sein und zu bleiben. 

Möchten Sachsen und Thüringer keine Westdeutschen werden, bestätigen sie, unbedingt weiterer Umerziehung zu bedürfen. Westdeutsche können sich Deutschland nur als Westdeutschland vorstellen. Darum nie wieder Deutschland! In der deutschen Vorzeit vor der Bundesrepublik lauern nämlich immer noch Gefahren und Unholde, an die dauernd erinnert, vor denen inständig gewarnt werden muß. Irgendwelche Änderungen an mühsam erworbener westlicher Gesinnung können nur einen Rückfall in glücklich überwundene Vorstufen der Bundesrepublik bedeuten. Dazu darf es unter  keinen Umständen kommen. Also wehret den Anfängen! 

Die Wiedervereinigung ist eine ungelöste Aufgabe

Westdeutsche sind radikale Reaktionäre. Der sizilianische Schriftsteller und Aristokrat Tomasi di Lampedusa prägte in seinem Roman „Der Leopard“ die Formel: „Damit alles so bleibt, wie es ist, muß sich alles ändern“. In der Bundesrepublik glauben die Wegweiser und Orientierungshelfer, daß nichts so bleibt, wie es ist, wenn sich auch nur etwas ändert. Sie wehren sich mit allen Mitteln dagegen, die alte Bundesrepublik vergehen zu lassen.

Doch in der Geschichte ist jeder Zustand vergänglich, ein unvermeidlicher Übergang in andere Zeiten mit den für sie passenden Regeln, Strukturen und Ideen, die ihrerseits weiteren Veränderungen Platz machen werden. Die Wiedervereinigung 1990 war eine große Herausforderung, zu einem neuen Deutschland zu finden. Auch die alte Bundesrepublik war damit als veraltet in Frage gestellt worden. Dieser Frage wichen Westdeutsche bewußt aus. 

Sie wollten aus der verlöschenden DDR einen Teil ihrer nun erweiterten BRD machen, überwölbt von der Ideologie allzeit siegreicher und wohltätiger Verwestlichung. In diesem phantasielosen Vorhaben äußerte sich panische Angst vor Veränderungen. Die Wiedervereinigung ist daher eine vorerst ungelöste Aufgabe geblieben. Verfassungspatrioten, die sich vor der Nation fürchteten, erhoben einen ursprünglich nur als Notbehelf gedachten Text, das Grundgesetz, einen vorläufigen Ersatz für eine künftige Verfassung, zu einem unantastbaren heiligen Buch voller zivilreligiöser Wunder und Weihen, dem Wechsel und Wandel der Zeiten entrückt. Aus den Eingeborenen in der ehemaligen DDR, die immer Deutsche gewesen waren, für sendungsbewußte Westdeutsche freilich sehr unterentwickelte Deutsche, mußten unbedingt Verfassungspatrioten werden. Dabei waren sie gar nicht beteiligt, als Westdeutsche und Westalliierte daran bastelten, „Trizonesien“, den drei Westzonen, einen provisorischen Rahmen zu verpassen. 

Bei der Künstlichkeit des Verfassungspatriotismus kann es gar nicht weiter verwundern, daß ein Amt für Verfassungsschutz mittlerweile zu einem sanctum officium geworden ist, zu einer heiligen Behörde, die wie einst die Inquisition in Spanien kontrolliert, ob die Bürger von ihrer Freiheit auch den allein richtigen, den systemerhaltenden Gebrauch machen, was meint, nicht mit den Altparteien in Widerspruch zu geraten. Diese verwalten zusammen mit dem Amt für Verfassungsschutz die Glaubenswahrheiten der Bundesrepublik. Allerdings leiden die alt gewordenen Parteien unübersehbar an Altersschwäche. Christliche Demokratie und Sozialdemokratie hatten gleich nach dem Kriege ihre historisch-politische Stunde. Die war schon vor dem überraschenden Fall der Mauer abgelaufen. Über das Ende der Volksparteien wird seit den frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geredet. 

In Frankreich und Italien haben sie sich längst überflüssig gemacht. Dort wird mit neuen Gruppierungen experimentiert, um einen Wandel des Systems herbeizuführen und es mit dem immer beweglichen Leben wieder in näheren Zusammenhang zu bringen. In der Bundesrepublik hingegen, der behäbigen Konsensdemokratie, verlieren CDU und SPD zunehmend an Bedeutung und versuchen nervös, sich unentbehrlich zu machen. Die Angehörigen der verdämmernden Volksparteien  sind von einer Altbegier befallen und werfen dennoch jedem vor, der sie für veraltet hält, sich als Ewiggestriger, der nichts gelernt hat und nichts lernen will, vor ungewohnten Entwicklungen und Ideen zu ängstigen, obschon doch gerade sie einigen Grund haben, damit rechnen zu müssen, alsbald als auslaufendes Modell behandelt zu werden.

Diese Altbundesrepublikaner klammern sich ans Gestern. Es darf nicht vergehen, weil es zu ihm keine Alternativen gibt. Inbrünstig beschwören sie mit immer gleichen Redensarten die deutsch-französische Freundschaft, die westliche Wertegemeinschaft, Europa und die Nato als gelungene Friedensprojekte, sind aber unfähig, diese vielleicht wertvollen Antiquitäten mit einiger, neu gewonnener Substanz  zu füllen. Sie verweigern sich dem nüchternen Rat des geschichtskundigen Charles de Gaulle, der gleich nach dem Abschluß des deutsch-französischen Vertrages daran erinnerte, daß Bündnisse ihre Zeit haben wie Rosen und junge Mädchen, die schnell verblühen.

Etablierte wollen sich vom Volk nicht stören lassen

Eine Europäische Union, die sich gründlich von der EWG unterscheidet, kann sich kaum mit einer politischen und ideellen Rechtfertigung aus der unmittelbaren Nachkriegszeit begnügen.  Möglicherweise ist ja die deutsch-französische Freundschaft längst ein Ärgernis und hat sich überholt. Vielleicht war sie immer nur ein Wahn und keine Wirklichkeit, da sie höchstens das Ergebnis der europäischen Einigung hätte sein können, und nicht deren Voraussetzung, was diese Freundschaftsbemühungen von vornherein strapazieren mußte.

Die phlegmatischen Westdeutschen in den Systemparteien verharren in der „Nachkriegsordnung“ von 1945, die eine Unordnung war, in der sich die westlichen „Wunderkinder“ allerdings recht sorglos zurechtfanden, die Geschichte und die mit ihr verbundenen Aufregungen anderen überlassend. Sie standen auf der Seite der Guten, fühlten sich gut. Sie verabschiedeten sich von der großen Politik, sie entdeckten die Moral und wurden zu Moralisten, die beharrlich die Politik moralisierten.  

In ihrer Unsicherheit – und ausschließlich mit dem Gewesenen – beschäftigt, wittern die aufrichtigen Verfassungspatrioten in den Altparteien überall, wo sich Verdruß über sie regt, einen Anschlag von dumpfen Dunkeldeutschen auf ihre moralisch hochgerüstete Wertegemeinschaft, deren Machtübernahme verhindert werden muß, indem alle aufrechten Demokraten entschlossen zusammenhalten, um die etablierten Parteien vor respektlosem Populismus zu schützen.

Gefälligkeitsdemokraten, die mit allen möglichen Geschenken und Wohltaten sich darum bemühten, in ihrem Treiben möglichst nicht vom auf diese Art verwöhnten Volk gestört zu werden, wehren sich vehement gegen Absichten, ihr Vorrecht einzuschränken, die politische Willensbildung in der Bundesrepublik mit ihren Spielkameraden in den Medien, Universitäten, in Kunst und Literatur und in allen möglichen Verbänden zu organisieren. Konkurrenten sind unerwünscht. 

Die schrumpfenden Altparteien haben sich selbst, die politisierte Moral und die von ihnen vollständig moralisierte Demokratie zu einer innerweltlichen Dreieinigkeit erhoben. Wer ihnen mißtraut oder sie offen herausfordert, handelt unmoralisch, undemokratisch und verfassungsfeindlich und wird in das Gewand eines Neofaschisten oder Neonazis aus der Requisitenkammer gesteckt.

Doch die verkrampften Versuche, einen Vorrang zäh zu behaupten, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre Zeit abgelaufen ist. Auf sie trifft zu, was Richard Wagners Loge im „Rheingold“ von den Göttern sagt: „Ihrem Ende eilen sie zu, / die so stark im Bestehen sich wähnen“, die  unausweichliche Götterdämmerung vorwegnehmend.