© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine
Auf Vordermann bringen
Richard Drexl und Josef Kraus

Die Tatsache, daß die Truppe selbst Verlegungen im größeren Maßstab nicht mehr beherrscht – weil die Aufgabe nicht mehr geübt wurde und die erforderlichen Gerätschaften kaum noch verfügbar sind –, verdeutlicht, wie sehr es im militärischen Handwerk bereits ums Eingemachte geht. Ganz abgesehen davon erfordert die Vorbereitung von Übungen und Einsätzen heutzutage einen ungeheuren Aufwand, weil Material aus allen Teilen der Republik zusammengeklaubt werden muß. (…) Mittels eines „dynamischen Verfügbarkeitsmanagements“ (Bundeswehrjargon, vulgo: Heldenklau) wird das notwendige Material herangeschafft.

In der Erfindung euphemistischer Begriffe haben es deutsche Bürokraten schon immer zur Meisterschaft gebracht. Ganze Büroetagen in Stäben und Ämtern haben sich darum zu kümmern, daß der Materialausgleich über alle Organisationsbereiche und Landesteile hinweg funktioniert. Eine Unzahl von Fahrzeugen ist mehr oder weniger ständig auf den Autobahnen und Straßen unterwegs, um die größten Löcher zu stopfen. Auslandseinsätze haben dabei Vorrang, eine Blamage den Partnern gegenüber soll vermieden werden. (…)

Eine „Trendwende Material“ soll nun zu einer besseren Ausstattung der Truppe führen, hohle Strukturen sollen in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören. Das wird Jahre dauern und Milliarden kosten. Ob und wann ein befriedigendes Ergebnis erzielt wird, ist völlig offen. Lob verdient die Bundesregierung immerhin insofern, als die materiellen Probleme offen benannt werden. Der Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme vom 26. Februar 2018 zeigt den mangelhaften Zustand schonungslos auf. Nahezu alle Großgeräte von Heer, Luftwaffe und Marine haben einen beklagenswerten Einsatzbereitschaftsstand. Die nun seitens des Ministeriums geplante Einstufung der Klarstände von Waffensystemen als Verschlußsache wird kein Problem lösen, sie wird heutzutage auch nicht mehr funktionieren.

Zunächst hat die Regierung aber große Mühe in den eigenen Reihen: Der Koalitionspartner SPD ziert sich in bezug auf die notwendigen Mehrausgaben, schließlich ist die soziale Armut in Deutschland so groß, daß dort zunehmender Handlungsbedarf in vielerlei Beziehung herrscht. Von wegen jahrzehntelang ausgebauter Sozialstaat und einer Sozialleistungsquote, die von 18 Prozent (1960) auf über 30 Prozent gestiegen ist; für die Aufnahme von Migranten bringt er ohne viel Federlesens über Nacht Dutzende von Milliarden jährlich auf (Ausgaben des Bundes für Flüchtlingshilfe und Integration 2017: 20,8 Milliarden Euro, Jahresbericht im Kabinett). Die Haltung vieler Politiker grenzt an Verantwortungslosigkeit: Die Wiederwahl ist offensichtlich wichtiger als die Zukunftssicherung unseres Landes.

Die allgegenwärtigen Versuche, die Armee zu „zivilisieren“, ein nichtmilitärisches Kontrollregime bis in den letzten Winkel auszubauen und ihr den letzten Rest an militärischem Geist auszutreiben, haben dabei gerade noch gefehlt.

Die bundesdeutsche Gesellschaft ist inzwischen so naiv wie pazifistisch, daß Zweifel am Selbstbehauptungswillen der Nation entstehen. Entsprechend gering ist das Ansehen der Armee. Das bleibt in den Köpfen der Soldaten nicht ohne Folgen.

Die Bundeswehr ist in Teilen auch mental in einem beklagenswerten Zustand. Wen verwundert das? Ob heute noch mit Fug und Recht vom „freundlichen Desinteresse“ gesprochen werden kann, wie der damalige Bundespräsident Horst Köhler am 10. Oktober 2005, ist fraglich. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist inzwischen so naiv wie pazifistisch, daß Zweifel am Selbstbehauptungswillen der Nation entstehen. Entsprechend geringwertig angesehen ist die Armee im Lande.

Daß dies in den Köpfen der Soldaten nicht ohne Folgen bleiben kann, liegt auf der Hand. Wenn sich dann noch die eigene Ministerin zur Frontkämpferin gegen die Truppe aufschwingt und aus freien Stücken und auf der Basis von Einzelfällen generelle „Haltungsprobleme“ attestiert, flüchten sich viele in Resignation und machen Dienst nach Vorschrift. Sie warten auf die vergleichsweise üppige Gehaltsmitteilung und lassen diejenigen gegen den Strom rudern, die sich ihre Motivation für den Dienst am Vaterland noch erhalten haben.

Mit diesen Ingredienzien geht etwas Entscheidendes für die Funktionsfähigkeit einer Armee kaputt: der Geist der Truppe. Alarmglocken sollten läuten, wenn die Anrechnung eines Kameradschaftsabends als Arbeitszeit reklamiert wird. Kampfgemeinschaften können nur effektiv funktionieren, wenn sie eine starke Bindung und Geschlossenheit entwickeln.

Das setzt der politisch gewünschten Diversität deutliche Grenzen. Die Einübung von Kameradschaft ist mehr als Geselligkeit, sie ist die Versicherung für den Ernstfall, gemeinsam mit Kameraden zu kämpfen und gegenseitig das letzte Hemd herzugeben. (…)

Die Bundeswehr muß in vielfältiger Hinsicht wieder auf Vordermann gebracht werden. Nach Jahren der Fokussierung auf Stabilisierungseinsätze mit leichten Kräften wird heute wieder eine modern-mechanisierte Truppe benötigt: qualifiziertes Personal, mehr gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie, mehr Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Schiffe, hochentwickelte Aufklärungs- und Führungsfähigkeit, Flug- und Raketenabwehr, intelligente Munition, leistungsfähige Transport- und Einsatzlogistik. General a. D. Klaus Naumann, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und hochrangiger Nato-General, sieht darin keineswegs eine Aufrüstung, allenfalls eine Verringerung der durch Unterfinanzierung und Auslandseinsätze verursachten Mängel (SZ, 13. August 2018). Die Wiederherstellung der vollen Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, zusätzliche Nato-Streitkräfteziele sowie ein weiterhin angemessener Beitrag zur internationalen Krisenbewältigung bedeuten eine anspruchsvolle Dreifachaufgabe. Wer jahrelang alles schleifen läßt, hat es später doppelt schwer. Später ist jetzt!

Die USA wenden 2019 mit über 700 Milliarden US-Dollar weit mehr als die im Nato-Rahmen vereinbarten zwei Prozent des BIP für ihr Militär auf. Deutschland bildet unter den relevanten Militärnationen des Bündnisses mit etwa 1,3 Prozent BIP-Anteil das Schlußlicht.

Trump beklagt zwar stärker als frühere US-Präsidenten transatlantische Ungleichgewichte, doch sind derartige Vorwürfe nicht seine Erfindung. Bereits Barack Obama hatte 2016 in der April-Ausgabe von The Atlantic die europäischen Partner als Freerider bezeichnet, als Trittbrettfahrer also. Nun gut, immerhin ist der deutsche Verteidigungsetat 2019 auf bemerkenswerte 42,9 Milliarden Euro angestiegen. Die Bundesrepublik hat zudem zugesagt, ihre militärischen Ausgaben bis 2025 auf 1,5 Prozent des BIP zu erhöhen. Wir werden sehen, ob dieses Versprechen gehalten wird.

Klar ist jedenfalls: Deutsche Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent Anteil am BIP bedeuten im Vergleich zum Ist eine erhebliche Erhöhung. Deshalb traut sich auch kaum ein führender Politiker, diese Forderung dezidiert zu erheben. Eher wird trickreich herumgerechnet, daß ja die zwei Prozent gar nicht so weit entfernt seien, wenn bestimmte Anteile der Entwicklungshilfe hineingerechnet würden.

Dieser Eiertanz führt aber nicht weiter. Es muß mit aller Konsequenz eine kontinuierliche Steigerung der Ausgaben im Interesse einer Beseitigung der Ausrüstungslücken geben. Personalausgaben zusätzlich zu erhöhen wäre keine Lösung. (…).

Martin Schulz, SPD-Kanzlerkandidat des Jahres 2017, hat zusammen mit dem damaligen SPD-Fraktionsvize Thomas Oppermann eingewendet, in Europa könne niemand allein schon mit Blick auf die Geschichte derart hohe deutsche Verteidigungsausgaben wollen. Eine Scheinargumentation, die nichts als den eigenen Unwillen zum Handeln ausdrückt. Ganz im Gegenteil: Partner und Freunde fordern unisono bei jeder Gelegenheit eine entsprechende Erhöhung unseres Verteidigungsbeitrags und explizit ein Ende der deutschen Sonderrolle. Daß damit die deutschen Verteidigungsausgaben die höchsten in Europa wären, ist unbestritten, das ergibt sich aus unserer Wirtschaftskraft.

Es hat keine Zukunft, daß Deutschland und Europa von US-Unterstützung abhängig sind, aus eigener Kraft aber chinesischen oder russischen Pressionen kaum etwas entgegensetzen könnten. Unsere Partner haben ein Anrecht auf ein starkes Deutschland. 

Was müßte aber mit zusätzlichem Geld geschehen, das für die Verteidigung über den jetzigen Stand hinaus aufgebracht werden soll? Zunächst muß es darum gehen, die unübersehbaren Löcher in der materiellen Ausstattung der Bundeswehr zu stopfen. Beispiele wurden genannt. Nicht zu vergessen die miserable Bevorratung von Munition, die nur eine untaugliche Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte zuläßt. Sie wurde in den letzten Jahren auf ein lächerliches Minimum heruntergefahren. Als Beispiel mögen schwere Seezielflugkörper der Marine dienen, von denen gerade einmal 25 auf Lager liegen. Macht vier Stück pro Korvette, ein glaubwürdiges Abschreckungspotential sieht anders aus.

Die Bevorratung wieder erhöhen zu können, hängt allerdings nicht mehr nur von Haushaltsmitteln ab, Munitionsdepots wurden in den letzten Jahren reihenweise geschlossen. Es sind kaum noch Lagermöglichkeiten verfügbar.

Und wer davon ausgeht, daß die USA künftig tatsächlich nicht mehr den Weltpolizisten auf eigene Rechnung spielen werden, dem fallen genügend ernsthafte europäische Anliegen ein: Die Sicherung der Weltmeere vor chinesischem Weltmachtgehabe und gegen Piraterie, weltraumgestützte und signalerfassende Aufklärung sind nur einige Beispiele, die sich die EU und damit die Deutschen vornehmen müssen. Merkels Idee eines europäischen Flugzeugträgers dürfte leider wieder nur eine Sprechblase sein wie ihre Einlassungen für eine Europa­armee. Zwei Prozent BIP-Anteil der Verteidigungsausgaben können als Versicherungsbeitrag betrachtet werden gegen die Gefahren einer zunehmend instabilen Weltordnung. Insbesondere Deutschland braucht freie Handelswege und den Import von Rohstoffen, ohne sie ginge es mit Wohlstand und Sozialstaat rasch bergab.

Wird außerdem der unterproportional geringe Investitionsanteil der Bundeswehr von nur 13 Prozent der Verteidigungsausgaben berücksichtigt, verdeutlicht dies, daß mit den vorgesehenen Mitteln eine nennenswerte Steigerung der deutschen militärischen Fähigkeiten nicht erreicht werden kann. Es führt kein Weg an der Zielmarke „Zwei Prozent“ vorbei.

Die wirtschaftliche Großmacht Deutschland muß ihre sicherheitspolitische und militärische Ohnmacht beenden, um die ihr zustehende Rolle in Europa und der sich ständig verändernden Welt einzunehmen. Sie muß endlich das richtige Maß finden zwischen militärischer Selbstbeschränkung und dem Solidaritätsbedürfnis der Verbündeten. Es hat keine Zukunft, daß Deutschland und Europa von US-Unterstützung abhängig sind, aus eigener Kraft aber chinesischen oder russischen Pressionen kaum etwas entgegensetzen könnten. Unsere Partner haben ein Anrecht auf ein starkes und berechenbares Deutschland.

Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand hängen von der Weltordnung ab, die nicht von alleine stabil ist und bleibt. 25 Jahre Streitkräftereform mit dem Ergebnis, daß sie für die Landes- und Bündnisverteidigung nicht mehr einsetzbar sind, bedürfen der nachhaltigen Korrektur.

Wir brauchen wieder Streitkräfte in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Wir brauchen eine Regierung mit Rückgrat, die sich nicht scheut, vor die Bevölkerung zu treten und zu sagen, was die Konsequenzen des Nichtstuns sind, europäisch, in der Nato und weltweit.






Richard Drexl, Jahrgang 1952, Oberst a.D., war von 1972 bis 2013 Berufssoldat, davon 15 Jahre im Bundesministerium der Verteidigung. Als Abteilungsleiter im Waffensystemkommando der Luftwaffe trug er Verantwortung für die Rüstungsvorhaben des fliegenden Gerätes der Bundeswehr.

Josef Kraus, Jahrgang 1949, war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Über 20 Jahre gehörte er dem Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung an.

Richard Drexl, Josef Kraus: Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine, FinanzbuchVerlag, München 2019, gebunden, 240 Seiten, 22,99 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlags – ein Auszug aus dem Buch.

Foto: Ein Soldat vom Gebirgsjägerbataillon 232 sitzt in einem gepanzerten Vollkettenfahrzeug bei einer Übung: Viele Soldaten flüchten sich bei dem beklagenswerten Zustand von Material und Geist in Resignation und machen Dienst nach Vorschrift. Sie warten auf die vergleichsweise üppige Gehaltsmitteilung und lassen diejenigen gegen den Strom rudern, die sich ihre Motivation für den Dienst am Vaterland noch erhalten haben.