© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Des sterbenden Riesen letztes Geleit
Vor 100 Jahren versenkte sich die in Scapa Flow internierte deutsche Hochseeflotte selbst / Was wußten die Briten über diesen Akt?
Andreas Lombard

Der Morgen des 21. Juni 1919 verhieß einen sonnigen Tag. Seit sieben Monaten lag der Stolz der Kaiserlichen Marine entwaffnet und fern der Heimat in der Bucht von Scapa Flow vor Anker. Zwei ungewöhnliche Dinge geschahen an diesem Morgen. Die meisten englischen Wachschiffe fuhren erstmals zu Übungen auf die offene See. 

Um halb zehn starteten 400 Schulkinder mit dem Dampfer „Flying Kestrel“ zu einem Schulausflug rund um die internierte Flotte. Konteradmiral Ludwig von Reuter stand als Chef des Internierungsverbands in voller Uniform mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse an Deck seines Flaggschiffs und ließ ab elf Uhr per Signalzeichen den vorbereiteten Versenkungsbefehl („Paragraph 11. Bestätigen“) an die anderen Schiffe übermitteln. Bald wurden auf dem Linienschiff „Friedrich der Große“ verbotenerweise die Boote ins Wasser gelassen. Um zwölf Uhr mittags hatte das Schiff bereits Schlagseite. Um 12.16 Uhr warf die aus den Schornsteinen austretende Luft zwei große Wasserstrudel auf, dann trieben nur noch Trümmer auf dem verlassenen Liegeplatz. Die erste erfolgreiche Versenkung wirkte wie ein Weckruf für die übrige Flotte. 

Die deutsche Flotte hatte ungeschlagen verloren

Die Kinder auf der „Flying Kestrel“ glaubten zunächst, ein arrangiertes Schauspiel zu erleben. Bald aber stimmten sie schreiend eine Art Totenklage an, zusätzlich zu der ohrenbetäubenden Kakophonie aus läutenden Schiffsglocken, berstendem Stahl, brodelndem Wasser, singenden Seeleuten, umherfahrenden Dampfbooten und einigen spontan schießenden Engländern, welche die Deutschen zur Rettung ihrer Schiffe zwingen wollten. Um vier Uhr nachmittags waren von den 24 großen Schiffen nur noch fünf über Wasser. „Markgraf“ sank um 16.45 Uhr und als letztes großes Schiff um 17 Uhr die „Hindenburg“. 

Nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, der die Internierung der deutschen Hochseeflotte verlangte, hatte sogar der Oberste Soldatenrat „im Dienste des Vaterlandes“ zur Fahrt in die Internierung aufgerufen, um „der neuen deutschen Republik ihre Wehrkraft zu erhalten“ – in der Annahme, die Schiffe würden als „vorübergehendes Pfand“ nach Friedensschluß zurückkehren. Bei „unverständlich herrlichem Wetter“, so Reuter, lief die Flotte am 19. November 1918 in einer fünfzig Kilometer langen Linie von Wilhelmshaven zu ihrer letzten Fahrt aus: fünf Große Kreuzer, elf Linienschiffe, acht Kleine Kreuzer und 50 Torpedoboote – 74 Einheiten mit 20.000 Mann an Bord. 

Am frühen Morgen des 21. November führte der Kleine Kreuzer „Cardiff“, begleitet von achtzig Zerstörern, die deutschen Schiffe in den Firth of Forth. Mit seinen Schlachtschiffen fuhr Admiral Beatty ihnen in zwei langen parallelen Linien entgegen, zwischen denen „Cardiff“ die deutsche Linie hindurchführte. Ein einzigartiges Flottenaufgebot: 90.000 Mann auf 370 Schiffen. Das gigantische Manöver war eine Art Spießrutenlauf. Sicher war dies eine Genugtuung für die Schlacht am Skagerrak, in der die Briten trotz doppelter Überlegenheit eine Niederlage gegen die Deutschen erlitten hatten. Freilich war dieses Ereignis ohne nennenswerten Einfluß auf das komplexe strategische Geschehen des Krieges geblieben. Sehr pointiert brachte dies Feldmarschall Sir Henry Wilson zum Ausdruck, als er Beatty gratulierte: „You have given us their army and we have given you their fleet.“ Das hieß, die Grand Fleet habe das deutsche Heer besiegt und die britische Armee die deutsche Flotte. Die Royal Navy hatte sieglos gewonnen, und die deutsche Flotte hatte ungeschlagen verloren. Der Sieg, der auch den Seekrieg entschied, war nicht zu Wasser, sondern zu Lande in Frankreich erzielt worden.

Auf dem Firth of Forth mußten die deutschen Kriegsflaggen eingeholt werden. Britische und amerikanische Offiziere überprüften die Entwaffnung. Am 22. November fuhren die ersten Torpedoboote weiter zu jener von den Ork-ney-Inseln im Norden Schottlands gebildeten Bucht, die den Briten als Stützpunkt der Grand Fleet im Rahmen der Fernblockade deutscher Häfen diente. Mit der Gefahr einer solchen Blockade für die deutsche Schiffahrt hatte Admiral von Tirpitz unter anderem den Schlachtflottenbau begründet. Demokratisierung, Flottenbau und Reichseinigung bildeten seit 1848 einen Dreiklang, auf den sich auch Kaiser Wilhelm II., der maritim gestimmte Enkel Queen Victorias, berufen konnte, der den Flottenbau zum populären, wenngleich schicksalhaften Projekt seiner dreißigjährigen Regierung machte. 1848 hatte die Revolution eine deutsche Flotte geboren, 1918 gebar die Flotte die Revolution. 

Man habe „zur Versenkung regelrecht aufgefordert“

Am 27. November 1918 trafen die letzten Schiffe in Scapa Flow ein. Die ständige Bereitschaft eines englischen Besatzungskommandos hielt die meuternden Teile der deutschen Mannschaften halbwegs in Schach. Drei Viertel der Besatzungen fuhren wieder heim. Für die Dagebliebenen gab es nicht mehr viel zu tun. Außer Wartungs- und Reinigungsarbeiten wurde getanzt, gelesen, geschrieben, gebastelt, gespielt und getrunken. Die mangelhafte Verpflegung kam aus Deutschland. Die Engländer lieferten Kohle, Wasser und Öl. Fälle von Skorbut traten auf. 700 Mann litten unter Zahnschmerzen.

Besonders auf dem Flaggschiff „Friedrich der Große“ gab es immer wieder Unruhen. Die englischen Offiziere berichteten von Schmutz und Verwahrlosung. Reuter wunderte sich, daß die Engländer die deutschen Schiffe nicht einfach besetzten, aber so frei waren sie gar nicht. Die seit dem 18. Januar 1919 andauernden Geheimgespräche der Siegermächte über die deutsche Flotte bezeichnete der Historiker Paul Kennedy sogar als „Seeschlacht von Paris“. Von einer Verteilung der Schiffe nach Kriegsverlusten hätten ausgerechnet England und die USA am wenigsten profitiert. Die US-Amerikaner befürworteten wegen ihres eigenen großen Flottenbauprogramms ohnedies die Versenkung. Bald diskutierte auch die Londoner Admiralität Versenkungspläne.

Am 11. Mai wird bekannt, daß Artikel 185 des Versailler Vertrages die Auslieferung der internierten Flotte sowie weiterer Kriegs- und Handelsschiffe vorsieht. Reuter fühlt sich von seiner Regierung alleingelassen und an den internationalen Ehrenkodex gebunden, der die Auslieferung verbietet. Seinen Entschluß zur Versenkung fällt er am 20. Juni in der Annahme, daß der Waffenstillstand am 21. Juni auslaufe. In Ermangelung von Sprengstoff wurden die vorhandenen Schiffsöffnungen wie Flutventile und Torpedoausgänge geräuschvoll präpariert. Es ist unvorstellbar, daß die Engländer nichts davon mitbekommen haben sollten, zumal sie den Deutschen sogar noch die für den 23. Juni geplante Besetzung der Schiffe verrieten. 

Zum ersten Mal seit sieben Monaten rannten die Männer eilig über Deck. Alles wurde geöffnet, auch Kondensatorendeckel, Kammertüren und Bullaugen. Die Torpedoboote neigten sich schon nach wenigen Minuten zur Seite. Als erster Schlachtkreuzer sank „Moltke“ um 13.15 Uhr „gleich einem Fontänen speienden Walfisch“. Der „Große Kurfürst“ bäumte sich steil in die Höhe, bevor beide Ankerketten brachen, er schwer über Backbord fiel und kenterte. Auf der „Seydlitz“ ertönte ein Hornruf nach dem alten Reiterlied „Wohl auf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!“ Die Männer legten ab und sangen die Nationalhymne. Drei Hurras, die von den Inselbergen zurückschallten, waren des „sterbenden Riesen letztes Geleit“. Neun Deutsche wurden von den Engländern an diesem und den folgenden Tagen spontan erschossen – es waren die letzten deutschen Toten dieses Krieges. Ertrunken ist niemand.

Die Selbstversenkung war neben der Verbrennung französischer Beutefahnen aus dem Krieg 1870/71 in Berlin die einzige unmittelbare Widerstandshandlung gegen den Versailler Vertrag. Während sich Tirpitz 1929 bei Reuter für das ehrenvolle Ende der deutschen Flotte bedankte, war für Hitler 1943 die Selbstversenkung „kein Ruhmesblatt der Marine“, weil es dieser im Vergleich zum Heer am Willen zum Kampf gefehlt habe.

Die Männer des Internierungsverbands gingen in die Kriegsgefangenschaft, aus der sie Ende Januar 1920 nach Deutschland zurückkehrten. Die Siegermächte stellten hohe Ersatzforderungen nach Hafenmaterial und weiteren Schiffen. Wegen ihres Materialwerts wurden die meisten versenkten Schiffe in den zwanziger Jahren gehoben. Heute liegen noch sieben Wracks auf dem Grund der Bucht.

Insgesamt war dies ein eher friedliches Ende des Seekriegs. Die formellen Proteste der Briten gingen mit zufriedenen Kommentaren ihrer Admiralität einher, der die Versenkung „gewaltige Probleme ersparte“. Sogar Admiral Fremantle, Chef des Wachgeschwaders in Scapa Flow, nannte das Ereignis einen „Akt des Friedens“. Übertroffen wurde er nur von Kapitänleutnant Kenworthy, der während des Krieges in der Admiralität tätig war und 1933 in seiner Autobiographie behauptete, Großbritannien habe das Deutsche Reich zur Versenkung regelrecht aufgefordert, um keine Schiffe an andere Mächte abgeben zu müssen. Dank des diskreten Umgangs mit ihrer heimlichen Einigkeit wahrten jedenfalls beide Seiten das Gesicht. Die elegante Diplomatie hinter einer Tat, die man heute eher als militaristisch verurteilen oder als symbolisches Verschwinden loben würde, ist nicht zu übersehen.