© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Dem Volk aufs Maul geschaut
Nachruf: Mit Heinrich Lummer geht ein christdemokratischer Charakterkopf
Christian Vollradt

Irgendwann Anfang der neunziger Jahre hatte die Junge Union zum Streitgespräch über das Für und Wider einer multikulturellen Gesellschaft geladen. Als ein – prononciert liberaler – Funktionär des CDU-Parteinachwuchses meinte, das typisch deutsche Schnitzel stamme schließlich auch ursprünglich aus dem Ausland, konterte der prominente Gast aus Berlin mit dem Hinweis, es sei doch lächerlich, den Begriff Kultur mit Kulinarik zu verwechseln. Die Mehrheit im Saal hatte er damit auf seiner Seite. Zu denen, die Heinrich Lummer nach der Debatte begeistert applaudierten, gehörte ein späterer Ministerpräsident. 

Einen „populistischen Stimmenfänger“ nannte ihn die Süddeutsche, lange bevor dieser negativ besetzte Begriff in Mode kam. Als „Heinrich fürs Grobe“ wurde der 1932 im Ruhrgebiet geborene in der Politik der Enklave West-Berlin  von den Bürgerlichen geliebt, von den Linken gehaßt. Nach Volksschule und Lehre zum Elektromechaniker legte Lummer das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg ab, ging zum Politikstudium an die Freie Universität nach Berlin, wurde im Jahr des Mauerbaus AStA-Vorsitzender. 

„Die Mehrheit will           keinen Vielvölkerstaat“

Von 1967 bis 1986 saß Lummer im Berliner Abgeordnetenhaus, davon elf Jahre als Fraktionsvorsitzender der CDU, 1969 bis 1980, und von 1980 bis 1981 als Präsident des Parlaments. Anschließend diente er (bis 1986) den Regierenden Bürgermeistern Richard von Weizsäcker und Eberhard Diepgen als Innensenator. Der überzeugte Antikommunist Lummer erweckte nicht nur die Freiwillige Polizeireserve zu neuem Leben, sondern ging massiv gegen die linksextreme Hausbesetzerszene in Kreuzberg vor. Und bereits in dieser Zeit warnte er vor unkontrollierter Zuwanderung und einem zu „schwerwiegendem“ Mißbrauch einladenden Asylrecht: „Es gibt Grenzen, die man gewahrt wissen will. Die Mehrheit will weder einen Vielvölkerstaat noch eine multinationale Gesellschaft“, schrieb er in einem CDU-Positionspapier 1987.

Als lebensfroher Katholik („Kneipen zieh’n mich an wie ein Magnet“ sang er selbstironisch) war Lummer aufgrund seiner Offenheit auch nicht erpreßbar, als die DDR-Staatssicherheit eine attraktive Agentin auf ihn angesetzt hatte. Am vergangenen Sonnabend ist Heinrich Lummer im Alter von 86 Jahren friedlich im Kreise seiner Familie entschlafen. Seine dringliche Mahnung, es müsse Union wie SPD „aus Gründen der politischen Stabilität“ gelingen, „die Ränder aufzusaugen oder zu integrieren“, haben beide Volksparteien erkennbar nicht beherzigt.