© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Mutter unser im Himmel
Kirchentag: Der Atem Gottes im Butterbrotpapier und Döner als deutsche Leitkultur / Erlebnisse auf dem größten Treffen evangelischer Laien / Weniger Besucher
Thorsten Brückner

Der ältere Herr wähnte sich offenbar bei einem Rockkonzert. „Das Beste, was ich in den vergangenen Jahren gehört hab“, rief der evangelische Pfarrer, nachdem es ihn zuvor nicht mehr auf seinem Sitz gehalten hatte. Mit Klatschen und Johlen quittierte er nicht etwa den Auftritt seiner Lieblingskirchenband, sondern den Vortrag seines Idols Heribert Prantl. „Da müssen Sie groß drüber berichten“, forderte er die anwesenden Journalisten auf. Rhetorische Fähigkeiten kann dem früheren Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung wirklich niemand absprechen. Mit Sätzen wie „Die Polkappen schmelzen, und in Polen wird die Demokratie immer dünner“ brachte Prantl das ihm ideologisch sichtlich geneigte Kirchentagspublikum in der Dortmunder Westfalenhalle auf seine Seite.

Applaus für den Kampf gegen das Kreuz

Der Tenor seines Vortrags war ebenso wenig überraschend wie seine früheren Leitartikel. In Brasilien sei ein „faschistoider Präsident“ an der Macht, „populistische Extremisten“ suchten hierzulande das „Heil wieder dort, wo das Unheil begonnen hat“. Und: Die „Verächter der Menschlichkeit sind im Kommen“. Bei diesen Verächtern denken Prantl und sein Publikum natürlich zuvorderst an die AfD. Deren Nichteinladung hatte Kirchentagspräsident Hans Leyendecker, ein ehemaliger Kollege Prantls, noch vor Beginn der Veranstaltung verteidigt. Mitglieder dieser Partei seien „Hetzer“ und „Rassisten“, stellte er klar. Der Kirchentag sei gegründet worden, „weil die Kirchen im Kampf gegen die Nazis versagt“ hätten. „Und heute sollen wir mit Leuten, die Nazis sind oder nichts gegen Nazis haben, zusammenarbeiten?“ 

Dennoch ließen es sich manche AfD-Mitglieder nicht nehmen, am Kirchentag durch Verteilaktionen Präsenz zu zeigen. Vor dem „Markt der Möglichkeiten“ händigten sie in der Dortmunder Messe Flugblätter aus, auf denen sie ein Lebensrecht für die ungeborenen Kinder forderten, die im Mutterleib getötet werden. Alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien durften auf ebenjenem „Markt der Möglichkeiten“ hingegen für ihre Weltsicht werben. Darunter auch die Linkspartei und die ihr nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung, die am Stand versuchte, mit Religionskritik zu punkten. An einem weiteren Stand verteilte die im bayerischen Verfassungsschutzbericht aufgelistete „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)“ ihr Propagandamaterial. Aufkleber mit Aufschriften wie „Nie wieder“ zusammen mit dem Konterfei von Björn Höcke oder „Nein zur Hetze gegen Muslime“. Bei manchem Jugendlichen trug der Haß bereits Früchte. „Komm, das kleben wir dem AfD-Typen am Eingang auf den Rücken“, sagte ein Teenager zu seinem Kumpel.

Um den christlichen Glauben und das Kreuz ging es beim Kirchentag wie bereits bei den vergangenen Malen nur vereinzelt, etwa bei den morgendlichen Bibelarbeiten. Stattdessen erntete Prantl für seinen Dank an die Kirchen, sich im vergangenen Jahr gegen den Kreuzerlaß des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder gestellt zu haben, stehende Ovationen. Applaus für den Kampf gegen das Kreuz.

Befremdlich war für den ideologisch nicht gleichgesonnenen Gast vor allem der Ton mancher Referenten. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm redete sich bei seinem Vortrag über Flüchtlingsrettung im Mittelmeer regelrecht in Rage. Die Gelassenheit eines Kirchenmannes, der die Menschheit in Gottes Hand geborgen sieht, kam ihm völlig abhanden. Gleiches tat nach ihm der Bürgermeister von Palermo,  Leoluca Orlando. Für ihn steht die Politik der sicheren Grenzen von Innenminister Matteo Salvini „gegen die Verfassung und gegen die Menschlichkeit“. Sein schrulligster Moment war die Feststellung, es gebe in Palermo keine Migranten. „Es gibt in Palermo nur Menschen, wir sind eine Gemeinschaft.“ 

Fast schon rechtsreaktionär wirkten demgegenüber Redner wie der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Zur Integrationspolitik gehört für ihn auch, deutsche Kulturgüter zu verteidigen. „Daß wir Bach hochhalten wollen, ist eine gute Nachricht“, sagte er unter schwachem Applaus. Das ließen andere Podiumsdiskutanten so nicht stehen. Die Spiegel-Journalistin Ferda Ataman, die in Franken aufgewachsen ist, hat da andere Vorstellungen. „Der Döner ist kulinarisch deutsche Leitkultur, daran gibt’s auch gar nichts zu rütteln.“ Auf keinen Fall dürfe man Leitkultur von einem Zeitpunkt ab definieren, bevor Einwanderer nach Deutschland kamen.

Ein zweites großes Thema war der Komplex Klima und Umwelt. Ihren eigenen Ansprüchen wurden die Veranstalter dabei aber nicht annähernd gerecht. Getränke in umweltfreundlichen Mehrwegflaschen waren auf dem Gelände praktisch nicht zu finden. Wer Durst hatte, mußte auf Einwegflaschen aus Plastik zurückgreifen. Die finden sich dann zwar angeblich irgendwann im Magen eines Wals wieder, aber wenigstens bietet das den Anlaß für noch mehr Betroffenheitsrhetorik in zwei Jahren in Frankfurt.

Für einen handfesten Skandal war nicht etwa der im Vorfeld bereits kontrovers diskutierte Workshop „Vulven malen“ verantwortlich, sondern die Bielefelder Soziologin Barbara Kuchler. Die sorgte bei einer Podiumsdiskussion mit der These für Aufsehen, Frauen, die sich schminkten, die Augenbrauen zupften und enge Kleidung trügen, müßten sich nicht wundern „wenn sie angesehen werden und es zu Grabschereien kommt“. Daß Männer einen Minirock auf eine bestimmte Art wahrnähmen, könne ihnen nicht verübelt werden. Aussagen, die sich wie eine Bewerbung für eine frei werdende Dozentenstelle an der König- Saud-Universität in Riad anhörten.

Nach dieser Definition Kuchlers vor Übergriffen gefeit waren demnach ganz sicher die Teilnehmerinnen des „FrauenLesben Gottesdienstes“ unter dem Motto „Siehe, du bist schön“ in der Lutherkirche im Stadtteil Hörde. Von Gott blieb bei der Veranstaltung indes wenig übrig. Die vom Ökumenischen Arbeitskreis „Lesben und Kirche“ favorisierte Version des „Vater unser“ beginnt so: „Unsere Mutter im Himmel, geheiligt ist uns deine Liebe.“ Auch das gemeinsam rezitierte Glaubensbekenntnis unterscheidet sich marginal von dem, was Generationen von Konfirmanden auswendig lernen mußten: „Ich glaube daran, daß wir das Brot teilen können und die Vielfalt der Träume, und daß die Erde neu wird im Miteinander von Frauen und Männern.“ Höhepunkt der Feier war dann nicht etwa die Predigt. Die Gläubigen sollten durch das Aufblasen einer Butterbrottüte den Atem Gottes erfahren – und diese dann zum Platzen bringen. Peng!

Obsessiv für das Thema Flucht und Migration

Der Kirchentag im Pott – als Veranstaltung der kurzen Wege geplant – offenbarte zweierlei. Zunächst die Unfähigkeit der Stadt Dortmund, für einen reibungslosen öffentlichen Transport zu sorgen. Wer wohl auf die Idee gekommen ist, zwischen Stadtgarten und Westfalenhalle Kurzzüge als U-Bahnen einzusetzen? Aber vielleicht hatte die SPD-regierte Stadt bei der Teilnehmerzahl auch realistischer kalkuliert als das Kirchentagspräsidium. Das erwartete nämlich zu den beiden Abschlußgottesdiensten 100.000 Besucher in der Signal-Iduna-Arena. Am Ende kamen 37.000. Der sich durch den ganzen Kirchentag ziehenden Obsession für das Thema Migration tat das aber auch am letzten Tag keinen Abbruch. In ihrer Abschlußpredigt wies Pfarrerin Sandra Bills nochmal auf die Christenpflicht hin, „Geflüchtete“ zu retten. Für den Fall, daß es bis dahin noch keiner mitbekommen hatte.

Auch bei den Dauerteilnehmern verfehlte die Kirchentagsleitung ihr Ziel von 118.000 Personen deutlich. Die 80.000, die kamen, sorgten für den tiefsten Besucherstand seit 1979. Vor zwei Jahren in Berlin waren es noch 105.000 Dauergäste, 2013 in Hamburg rund 117.000. Für Leyendecker aber kein Anlaß, den Kurs zu hinterfragen. Zahlen sagten nichts über Erfolg und Mißerfolg eines Kirchentages aus, teilte er mit.





Seit 70 Jahren

Laientreffen gab es in der Kirchengeschichte schon vorher, doch der Deutsche Evangelische Kirchentag  (DEKT) wurde erst 1949 gegründet. Dienen soll er „der Zurüstung der evangelischen Laien für ihren Dienst in der Welt und in der christlichen Gemeinde“. Früh entwickelte sich der DEKT zum Forum des Linksprotestantismus, anfangs in Opposition zur teilweise noch konservativeren Amtskirche. Das Treffen findet alle zwei Jahre statt.