© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Im Korruptionssumpf versunken
Brasilien: Die Veröffentlichung illegaler Abhöraktionen hält die Nation in Atem und gefährdet Aufklärungsarbeit
Wolfgang Bendel

Seit Jahren beschäftigt sich Brasilien damit, einen der größten Korruptionsskandale aller Zeiten juristisch aufzuarbeiten. Während der Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva („Lula“) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff wurde der staatliche Erdölkonzern Petrobras um riesige Summen geschädigt. Noch immer ist das Ausmaß der Gelder, die unterschlagen wurden, nicht genau bekannt. 

Der Oberste Rechnungshof  TCU schätzt die Schadenssumme bei der Petrobras allein auf 29 Milliarden Reais (6,7 Milliarden Euro). Einer der Beschuldigten ist Lula, gegen den inzwischen nicht weniger als acht Prozesse wegen Geldwäsche, „Identitätsdiebstahl“ – genauer, der Einsatz von Strohmännern beim Erwerb von Immobilien mittels unterschlagener Gelder staatlicher Unternehmungen –, Vermögensverschleierung und Behinderung der Justiz laufen. 

Fleischproduzent und Baukonzern als Nutznießer  

Der gesamte Korruptionskomplex, bei dem auch zahlreiche andere staatliche Organisationen, darunter vor allem die nationale Entwicklungsbank

BNDES, geschädigt wurden, ist unter dem Namen Operation Lava Jato (Autowäsche) bekannt geworden. Nutznießer waren nicht nur einflußreiche Politiker wie Lula oder der ebenfalls einsitzende ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses Eduardo Cunha, sondern auch Privatunternehmen wie der Baukonzern Odebrecht oder der weltweit größte Fleischproduzent JBS.

Anfang Juni bekam die ganze Angelegenheit nun eine unerwartete Wendung. Die Enthüllungswebseite „The Intercept“ veröffentlichte Mitschnitte von Telefonaten, die zwischen dem für den Fall zuständigen damaligen Bundesrichter und heutigen Justizminister Sérgio Moro und dem Hauptankläger Deltan Dallagnol geführt worden sein sollen. 

Die Authentizität der Gespräche ist nicht gesichert, die Vorgehensweise ohne Zweifel illegal. Niemand kann sich das Recht anmaßen, Telefonnummern anderer zu kopieren oder gar die Gespräche von Richtern und Staatsanwälten aufzuzeichnen. Dies schon gar nicht, wenn diese Telefonate strafrechtliche Ermittlungen zum Inhalt haben. Das alles hinderte die Medien freilich nicht, die Aufzeichnungen zu veröffentlichen.

  Glaubt man diesen, soll es zu Absprachen zum Nachteil von Lula zwischen Moro und Dallagnol gekommen sein. In einer Bewertung der Vorgänge erklärte der renommierte Rechtsprofessor Matthew Stephenson von der Universität Harvard, daß die Gespräche zwischen Moro und Dallagnol zwar einen „Bruch der Ethik“ bedeuten würden, aber nicht zu dem Schluß führen dürften, sämtliche Verurteilungen in diesem Fall für ungültig zu erklären. 

In vielen Medien ist häufig die Rede davon, daß das Vorgehen der brasilianischen Justiz gegen Lula politische Hintergründe habe. Diese Behauptung bekommt durch die Veröffentlichungen von „The Intercept“ neue Nahrung. Allerdings ist zu konstatieren, daß Lula bereits in zwei der erwähnten acht Verfahren zu mehrjährigen Strafen verurteilt wurde. 

Es liegen zahlreiche Indizien und Zeugenaussagen vor, die den Schluß zulassen, daß die Vorwürfe gegen ihn keineswegs aus der Luft gegriffen sind. Daß der Angeklagte bislang nicht geständig ist, kann selbstverständlich nicht als Beweis seiner Unschuld gelten.