© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Zeitschriftenkritik: Der Spiegel Wissen
Ohne Vergessen gibt es kein Lernen
Werner Olles

Was würde uns eigentlich fehlen, wenn ein Ereignis, an das wir uns besonders gern erinnern, plötzlich ausgelöscht wäre? Tatsächlich ist ein Leben ohne Gedächtnis für uns Menschen kaum vorstellbar, denn es führt uns durch die Welt, und ohne Erinnerungen verlieren wir das Gefühl dafür, wer wir sind. Doch das Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen ist komplex, das zeigen Erkenntnisse der Neurowissenschaft. Wie unser Gehirn funktioniert, warum wir uns an ein bestimmtes Lied erinnern, das uns auf eine Zeitreise in die Vergangenheit mitnimmt, weshalb uns die Erinnerungen an unsere allerersten Lebensjahre fehlen und unser Gedächtnis uns bisweilen täuscht – damit beschäftigt sich die aktuelle Ausgabe (2/2019) von Spiegel Wissen. Dabei geht es auch darum, was wir unserem Gedächtnis Gutes tun können. Der Umgang mit unseren 84 Milliarden Gehirnzellen, von denen jede einzelne 10.000 Verknüpfungen mit anderen Gehirnzellen eingehen kann, ist ein ungeheuerer Wissensspeicher, der jedoch nie voll wird, sondern immer neue Anknüpfungspunkte zur Verfügung stellt, um sich Wissen anzueignen. 

Vom puren Auswendiglernen über die sogenannte Routentechnik, bei der man gewisse Punkte mit den Begriffen verknüpft, die man sich merken möchte, bis hin zu einem ausreichenden und erholsamen Schlaf, der Verkürzung von Fernseh- und Internetzeiten und der Therapie von Bluthochdruck und Diabetes gibt es eine ganze Reihe von Verhaltensmaßnahmen und Techniken, mit denen man seine Lernstrategien verbessern kann.

Als zusätzliche Hilfen gelten handschriftliche Notizen, mehr Stille und ein geregeltes Alltagsleben, denn wir sind nicht den ganzen Tag lern- und aufnahmefähig. Wissenschaftlich erwiesen ist auch, daß Angst und Depression dem Gedächtnis schaden. Zur geistigen „Fitneß“ gehört also auch eine gesunde Seele und ein gesunder Kopf. Dennoch sind Erinnern und Vergessen keine absoluten Gegensätze, sie gehören vielmehr in einem dynamischen Prozeß zusammen. Ohne Vergessen gibt es kein Lernen, denn Vergessen, im Sinne von Ausblenden und Filtern, ist eine Bedingung für Aufmerksamkeit und Abstraktionsfähigkeit. 

Zwar kennt jeder das Gedächtnisphänomen der Kopfkapriolen, wenn einem beispielsweise ein bestimmter Name auf der Zunge liegt, man ihn aber nicht herausbringt. Mit zunehmendem Alter tritt eine derartige Gedächtnisbremse häufiger auf. Dies ist ein normaler Alterungsprozeß und kein Grund zur Sorge. Die Diagnose „Alzheimer“ geht dagegen mit Symptomen wie gravierender Vergeßlichkeit, Orientierungsschwierigkeiten, Einschränkung und Vermeidung von sozialen Kontakten sowie Problemen mit der Lösung einfacher Alltagssituationen einher. Doch auch hier können ein aktiver, gesunder Lebensstil und Medikamente, die vor Ausbruch der Krankheit wirken, das Leiden zumindest verzögern und mildern, während die Demenz nicht heilbar ist. 

Kontakt: Spiegel-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg. Das Einzelheft kostet 8,50 Euro, im Abo 7,50 Euro

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