© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Geopolitik und deutsch-französische Freundschaft
Ein Ungleichgewicht
Thorsten Hinz

Vielleicht trügt der Anschein, und die Kleinstaaten und Mittelmächte Europas verfügen noch über genügend Kraft, um ihre materiellen und immateriellen Güter gegen die Zudringlichkeiten der globalisierten Welt zu behaupten. Gelingen kann ihnen das nur gemeinsam, in einem wie auch immer gearteten Staatenverbund, der ein funktionierendes deutsch-französisches Tandem voraussetzt. Das ergibt sich aus der Größe, dem Gewicht, der Geographie und der Geschichte beider Länder.

Deutschland muß dabei die französischen Führungs- und hegemonialen Ambitionen in Rechnung stellen, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Charles de Gaulle, der 1958 französischer Präsident wurde und die kollabierende Vierte in die Fünfte Republik überführte, hatte begriffen, daß Frankreich zu schwach war, um als Solitär in der internationalen Arena noch eine Rolle zu spielen. Deshalb wollte er es als Zentrum und Führungsmacht eines europäischen Verbundes etablieren, der perspektivisch bis zum Ural reichte. Deutschland sollte ihm assistieren und dem französischen Projekt seine ökonomische Kraft zur Verfügung stellen.

De Gaulles Nachfolger haben das Konzept nicht aus den Augen verloren. Nur sind die französische Hegemonie und das gesamteuropäische Interesse nicht deckungsgleich. Die Frage lautet also, ob Deutschland fähig ist, die französischen Egoismen auszubalancieren.

Der deutsche Diskurs über das politische Frankreich wird von Sentimentalität statt von Realismus bestimmt. So wird dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand zugute gehalten, daß er nach einer kurzen Phase der Irritation 1989/90 den deutschen Einigungsprozeß wohlwollend begleitet hätte. Und zwar im scharfen Kontrast zur britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die gegen die Wiedervereinigung offen opponiert hatte. Thatcher war auf der ganzen Linie gescheitert, weil die Amerikaner und schließlich auch die Russen – und allein auf diese beiden kam es an – jeweils Interesse an der Deutschen Einheit hatten. Mitterrand dachte kaum anders als die „Eiserne Lady“, nur schätzte er seinen Einfluß realistischer ein. Er spielte mit verdeckten Karten und drängte Deutschland zur übereilten Einführung der Gemeinschaftswährung, angeblich um einer Einkreisung wie 1914 vorzubeugen.

Der Anachronismus verfing, weil die Deutschen das halbrichtige Mantra, die deutsche und die europäische Einheit seien zwei Seiten derselben Medaille, als die ganze Wahrheit verinnerlicht hatten. Sogar der Realpolitiker Egon Bahr verstieg sich 1991 zu der Aussage, er sehe „kein einziges außenpolitisches, nationales, deutsches Ziel“; die Interessen Deutschlands seien ausschließlich „europäische“. In dieser Hochstimmung warf die politische Klasse die „Krönungstheorie“ über Bord, welche besagte, daß man erst die ökonomischen und geldpolitischen Standards harmonisieren und gemeinsame politische Strukturen schaffen müsse, ehe man die Währungen vereinheitlichen könne.

Der Euro ist aus französischer Sicht bisher nur ein halber Erfolg, weil er die wirtschaftliche Schwäche der mediterranen Länder einschließlich der eigenen brutal offengelegt und ihre sozialen Probleme verschärft hat. Nun will Paris nachholen, was es vor 25 Jahren verweigerte und einen supranationalen politischen Unterbau schaffen. Politisch sitzt es am längeren Hebel, denn Deutschland ist im Währungsverbund zur Geisel der südeuropäischen Verschuldungspolitik geworden. Auch moralisch ist seine Position geschwächt; es gilt den anderen Ländern als egoistisch, rücksichtslos und geizig. Die aus innenpolitischen Gründen strapazierte Behauptung, die Deutschen seien die größten Gewinner des Euro, provoziert die Nachbarn zusätzlich.

Was „deutsch-französische Freundschaft“ genannt wird, nahm unter den Zwängen des Kalten Krieges und weniger unter idealistischen Vorzeichen seinen Anfang. Die Partnerschaft Adenauers und de Gaulles war keine Liebesheirat, sondern eine Vernunft­ehe.

Die Vorschläge Emmanuel Macrons, angefangen bei der Sorbonne-Rede vom September 2017 bis zum offenen Brief an die „Europäer“ vom März 2019, sind eindeutig: Er will die Schulden- und Sozialunion, gemeinsame Staatspapiere, Steuern und Budgets, um zusätzliche Geldflüsse von Nord nach Süd zu generieren und festzuschreiben. Die gemeinsamen Minister und die effektive parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene, die er anregt, sollen den Maßnahmen den Anschein demokratischer Legitimität verleihen. Faktisch laufen sie darauf hinaus, daß Frankreich gemeinsam mit den anderen Südländern die Nordstaaten – allen voran den Zahlmeister Deutschland – offen majorisieren kann.

Gegenüber den Finessen und der Rhetorik französischer Politiker erweisen die deutschen sich als wehrlos. Sie betrachten die Szenen herzlichen Einvernehmens zwischen Konrad Adenauer und de Gaulle, die in Film und Foto festgehalten wurden, wie sakrale Ikonen. Wie die Gläubigen im alten Byzanz kennen sie keine historisch-kritische Distanz zum religiösen Fetisch.

Das 55. Jubiläum des Élysée-Vertrags am 22. Januar 2018 wurde vom Bundestag zum Anlaß für eine gemeinsame Sitzung mit Abgeordneten der französischen Nationalversammlung genommen. Ihr Präsident François de Rugy sagte in seiner Ansprache, es sei an der Zeit zu zeigen, daß Frankreich und Deutschland nicht mehr nur ein Paar sind: „Unsere beiden Länder sind eine Familie.“ Einzig der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland widersprach der Romantisierung zwischenstaatlicher Beziehungen. Präsident de Gaulle, so Gauland, „glaubte an die Nation, an die französische zuerst und dann an die deutsche“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erwiderte patzig, man bräuchte keine Nachhilfe zum Erbe von Adenauer und de Gaulle. Und der 29jährige FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle twitterte nach der Rede de Rugys: „Stehende Ovationen. Die Nazis bleiben sitzen.“ Gemeint waren die AfD-Abgeordneten. Wie in einem Brennglas ist in Kuhles Tweet der Verlust an historischem Wissen und politischer Urteilskraft gebündelt. Der politische Romantiker ist heute zugleich Antifaschist und damit doppelt immun gegen die Wirklichkeit.

Was „deutsch-französische Freundschaft“ genannt wird, nahm unter den Zwängen des Kalten Krieges und weniger unter idealistischen Vorzeichen seinen Anfang. Die Amerikaner hatten die französisch-deutsche Verständigung zur Vorbedingung ihres Engagements in Westeuropa gemacht. Die Partnerschaft von Adenauer und de Gaulle war keine Liebesheirat, sondern – wie sich das in der Politik gehört – eine Vernunftehe. Um Adenauers Unterstützung für seine weitgespannten Europa-Pläne zu erhalten, nutzte de Gaulle das schwerste Handicap der Bundesrepublik, die deutsche Teilung, und bot sich als entschiedener Unterstützer der Wiedervereinigung an – in der klaren Berechnung, daß es dazu auf absehbare Zeit sowieso nicht kommen würde. Die Sowjetunion würde nicht zulassen, daß die DDR ins westliche Lager abwanderte, während umgekehrt Adenauer nicht bereit war, die Westbindung zugunsten der Wiedervereinigung aufzugeben und die Bundesrepublik in ein neutrales Gesamtdeutschland zu überführen. Dieses würde – in dieser Befürchtung wußten der Präsident und der Kanzler sich einig – alsbald in den Sog Moskaus geraten.

Für Adenauer garantierte de Gaulle die Stabilität Frankreichs, das über die Algerien-Frage in einen Bürgerkrieg abzugleiten drohte. Ein Chaos beim linksrheinischen Nachbarn hätte das Sicherheitsgefüge der Nato ins Wanken gebracht und die Bundesrepublik unmittelbar betroffen. Zudem gab es in Frankreich eine starke kommunistische Partei und große Sympathien für die Sowjetunion. Mit seiner Unterstützung de Gaulles wollte Adenauer einer russisch-französischen Allianz vorbeugen. De Gaulle bedankte sich mit demonstrativer Entschlossenheit gegenüber den Erpressungsversuchen Moskaus in der Berlin-Krise zwischen 1958 und 1962 und wirkte als Korrektiv zu den USA und vor allem zu Großbritannien, wo sich – in den Worten des Diplomaten Hans Kroll – „Berlin-Müdigkeit“ ausbreitete.

In einem Tandem ergänzen sich beide Partner und stimmen sich aufeinander ab, oder sie verunfallen gemeinsam. Nicht die bürokratische Vereinheitlichung, sondern die Zusammenführung von Interessen weist in eine europäische Zukunft.

Mit der französischen Karte konnte der Kanzler die USA unter einen gewissen Druck setzen, weil die Amerikaner eine von de Gaulle gewünschte wirtschafts- und handelspolitische Autarkiepolitik Westeuropas fürchteten. Gegen den Widerstand seines Wirtschaftsministers Ludwig Erhard war Adenauer bereit, finanziellen Forderungen Frankreichs nachzukommen. Als Erhard sich Anfang 1959 öffentlich über die Vorstellungen aus Paris mokierte, wies er ihn zurecht: „Gerade in diesem Augenblick, in dem Großbritannien (…) uns auf das Schwerste schädigt, und wir auf die Hilfe Frankreichs unbedingt angewiesen sind, ist es völlig unmöglich, daß Sie eine Rede halten, die Frankreich verletzt (…).“

Sein taktisches Entgegenkommen gehorchte einer strategischen Idee, war eminent politisch und hatte nichts mit Sentimentalität, Lehenstreue und romantischen Anwandlungen zu tun. In seinen Memoiren zitierte er die Paraphrase eines De-Gaulle-Satzes: Man solle nicht glauben, „daß wirtschaftliche Probleme die Welt beherrschen. Sie wird vielmehr von den großen Staatsmännern wie auch von politischen Fragen entscheidend beeinflußt.“ Das sei, fügte Adenauer hinzu, auch seine Überzeugung.

Die Geschichte Frankreichs kennt zahlreiche Brüche, aber keinen, der mit der deutschen Katastrophe von 1945 vergleichbar wäre. Die Bundesrepublik mußte nach den Hitler-Jahren einen neuen Anfang setzen. Die idealistische Neigung zum Extrem aber feierte ein paar Jahrzehnte später unter neuem Vorzeichen fröhliche Urständ. Die Machtversessenheit des Dritten Reiches wurde durch Selbstverleugnung und Hypermoralität ersetzt; erneut geraten geschichtliche und geopolitische Konstanten aus dem Blick. Zu den Konstanten gehört, daß die französische Führung die Europa­politik weiterhin aus dem Blickwinkel ihrer nationalen Souveränität betrachtet. Was beide Länder unterscheide, sei „das Verhältnis zum Politischen schlechthin“, schreibt Markus C. Kerber in dem Buch „Europa ohne Frankreich?“. Während Frankreich auch im EU-Apparat rigoros seine Interessen durchsetze, sei Deutschland konsensual ausgerichtet mit dem Ergebnis, daß es um des Friedens willen stets den Zahlmeister gibt.

Das Ungleichgewicht hängt auch mit dem qualitativen Gefälle in der Eliten-Rekrutierung zusammen. Die Führungsschicht Frankreichs setzt sich aus ENA-Absolventen zusammen, die in Geschichte, Philosophie, Literatur geschult und auf die Verteidigung französischer Interessen festgelegt sind. In der Bundesrepublik sind eine Reihe Politiker durch ihr Lebensschicksal zu Staatsmännern geformt worden, doch längst tendiert die Auslese – in den Worten des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker – zum parteiabhängigen Berufspolitiker, der weder Fachmann noch Dilettant sei, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man den politischen Gegner bekämpfe und die eigene Wiederaufstellung sichere.

In einem Tandem ergänzen sich beide Partner und stimmen sich aufeinander ab, oder sie verunfallen gemeinsam. Frankreich könnte lernen, daß seine Hegemonialträume anachronistisch und unverträglich für Europa sind; Deutschland müßte einsehen, daß kein anderes Land die Auflösung des Eigenen in einem von Brüssel regierten Verbund will. Nicht die bürokratische Vereinheitlichung, sondern die Zusammenführung von Interessen weist in eine europäische Zukunft.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschlands Mission („Europas leere Mitte“, JF 8/19).

Foto: Emmanuel Macron und Angela Merkel bei der Erneuerung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Rathaus Aachen, 22. Januar 2019: Der deutsche Diskurs über das politische Frankreich wird zu sehr von Sentimentalität statt von Realismus bestimmt