© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Der Pianist und der Präsident
Wie polnische Politiker der Pariser Friedenskonferenz von 1919 vorarbeiteten
Gustav Schwarzbach

Unsere Politiker träumen immer noch von Wilna und Kiew, aber um Posen kümmern sie sich schon weniger, Danzig haben sie beinahe völlig vergessen und über Königsberg und Oppeln machen sie sich überhaupt keine Gedanken. (…) Nach vielen Jahrhunderten des Herumirrens auf Abwegen ist es an der Zeit, auf den alten Pfad zurückzukehren, den die piastischen Heerführer einst mit starker Hand zum Meer bahnten.“ Mit diesen Worten hatte der polnische Publizist Jan Ludwik Poplawski bereits 1887 in einem Zeitschriftenaufsatz eine territoriale Neuorientierung der polnischen Gesellschaft eingefordert. Statt sich Illusionen über eine Wiederherstellung der alten, zeitweise bis ans Schwarze Meer reichenden polnisch-litauischen Adelsrepublik hinzugeben, sollten die Polen ihre nationalen Ziele nunmehr also im Westen erblicken: Das von Poplawski genannte „Meer“ war unschwer als Ostsee zu identifizieren; Hauptgegner einer solchen Politik mußte zwangsläufig Preußen beziehungsweise das unter seiner Führung 1870/71 geeinte Deutsche Kaiserreich sein.

Jedenfalls hatte Poplawski mit Posen, Danzig, Oppeln und Königsberg bereits jene Städte im preußischen Osten genannt, die gut drei Jahrzehnte später, auf der Pariser Friedenskonferenz des Jahres 1919, tatsächlich im Fokus polnischer Gebietsansprüche standen – wobei zumindest Oppeln und Königsberg gar nicht Bestandteil des alten, unter Preußen, Rußland und Österreich aufgeteilten polnischen Staates gewesen waren. Solche Ansprüche entsprangen also keineswegs taktischen Erwägungen des Augenblicks, vielmehr bildeten sie eine Grundforderung des polnischen Nationalismus. Was der 1908 gestorbene Poplawski erstmals angedacht hatte, wurde von seinem jüngeren Mitstreiter Roman Dmowski vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in ein konkretes außenpolitisches Konzept gegossen. Demzufolge sollte Polen in einem künftigen großen europäischen Krieg seine Autonomie an der Seite Rußlands wiedererringen und in dieser Konstellation fortan ein starkes „Bollwerk“ gegen den deutschen „Drang nach Osten“ bilden.

Scharfer Gegensatz zwischen Pilsudski und Dmowski

Pate stand hierbei ein Weltbild, das einerseits eine direkte Reaktion auf die antipolnische „Germanisierungspolitik“ im Bismarckreich darstellte – nicht zufällig bezeichneten Dmowskis Anhänger sich selbst als „Allpolen“ (in direkter Anspielung auf den 1894 so benannten „Alldeutschen Verband“). Andererseits spiegelten sich darin aber auch die Versatzstücke einer nationalen Ideologie, wie sie in vielen europäischen Ländern bereits vor 1914 wirkmächtig wurde – so etwa in den Reihen der Action française mit ihren Vordenkern Maurice Barrès und Charles Maurras.

Unwidersprochen blieb das Programm Dmowskis in der polnischen Öffentlichkeit freilich nicht. Im zu Österreich gehörenden Galizien konnte sich mit Józef Pilsudski ein Politiker als dominierende Figur durchsetzen, der nicht in Deutschland, sondern in Rußland den Hauptgegner der polnischen nationalen Interessen erblickte. Pilsudski war daher fest entschlossen, seine eigens ausgehobenen paramilitärischen „Legionen“ an der Seite der Mittelmächte in den erwarteten Krieg zu führen. Der scharfe Gegensatz zwischen dem Pilsudski- und dem Dmowski-Lager prägte die innerpolnische Auseinandersetzung in den letzten Jahren vor 1914 entscheidend.

Polnische Unzufriedenheit über Grenzen von Versailles

Der Verlauf des Ersten Weltkrieges ließ dann letztlich beide Konzepte obsolet werden. Einerseits stand Russisch-Polen, das, einschließlich der Hauptstadt Warschau, den Kern eines polnischen Autonomiegebiets hatte bilden sollen, seit Sommer 1915 unter der Besatzung der Mittelmächte. Als Bündnispartner war die russische Seite für Dmowski damit nicht länger relevant. Andererseits verstanden Deutschland und Österreich es nicht, diesen Vorteil für sich auszunutzen. Eine wenig sensible Politik, die den Polen den Eindruck vermitteln mußte, es gehe gar nicht um ihre staatliche Zukunft, sondern letztlich nur darum, dringend benötigtes menschliches „Ersatzmaterial“ für die an der Westfront ausgebluteten Heere herbeizuschaffen, führte zur Entfremdung. Spätestens mit der Inhaftierung der unter den Polen extrem populären Führerfigur Pilsudski in der Festung Magdeburg hatte sich im Juli 1917 auch diese Option erledigt.

Dmowski wiederum konzentrierte seine Kräfte zu dieser Zeit längst auf die Westmächte. Anfang 1916 hatte er seinen Wohnsitz in London genommen, wo er führende Politiker und Pressevertreter – darunter den englischen Außenminister Lord Balfour – fortgesetzt mit Denkschriften eindeckte, die den polnischen Standpunkt in der Grenzfrage zum alliierten Allgemeingut machen sollten. Als Schaltzentrale dieser Aktivitäten wurde im August 1917 im schweizerischen Lausanne das „Polnische Nationalkomitee“ ins Leben gerufen. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Krieg mit dem Eintritt der USA auf alliierter Seite längst eine weitere dramatische Wendung erfahren – zumal es der amerikanische Präsident Woodrow Wilson war, der im Rahmen seiner „Vierzehn-Punkte-Rede“ vom Januar 1918 ein „unabhängiges Polen“ mit einem „freien und sicheren Zugang zum Meer“ zum unverzichtbaren Bestandteil einer kommenden Friedensordnung erklärte.

Den US-Präsidenten bei der konkreten Auslegung seines eigenen Friedensprogramms zugunsten Polens zu beeinflussen, erschien damit als eine Aufgabe von besonderer Wichtigkeit. Das „Nationalkomitee“ übertrug sie einem Mann, der sich bereits seit Ende 1915 in Amerika aufhielt, dort zunächst aber vor allem als begnadeter Pianist gefeiert wurde: Ignacy Jan Paderewski. Im Präsidentschaftswahlkampf vom Herbst 1916 freilich schlüpfte der Musiker Paderewski umstandslos in die Rolle des politischen Agitators und organisierte unter den polnischstämmigen Amerikanern eine großangelegte Kampagne für Wilsons Wiederwahl. 

Schon angesichts seines nur knappen Sieges stand der Präsident fortan tief in Paderewskis Schuld. Dieser nutzte die Gunst der Stunde und überreichte Wilson wenige Tage nach der Wahl eine Denkschrift, die ein feines Gespür für spezifisch amerikanische Gemütslagen verriet. In einem knappen historischen Abriß schilderte Paderewski Polen als das „europäische Amerika“, als Hort von Freiheit, Toleranz und Demokratie. Ergebnis des Krieges müsse daher die Gründung der „Vereinigten Staaten von Polen“ sein – unter Einschluß Posens, Oberschlesiens, West- und Ostpreußens.

Als mißlich für Paderewski und Dmowski erwies sich der Umstand, daß im Moment des deutschen Zusammenbruchs im November 1918 zunächst Pilsudski den Kampf um die Macht im nunmehr freien Polen für sich entscheiden konnte. Im Augenblick seiner Befreiung aus deutscher Festungshaft hatte freilich auch er sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Polen zwar nicht selbst über ihre Grenzen zu bestimmen hätten, daß sie aber gewiß nichts zurückweisen würden, was die siegreiche Entente ihnen „schenke“.

Bevor die Friedenskonferenz am 18. Januar 1919 ihre Arbeit aufnahm, kam es zu einem innerpolnischen Kompromiß: Dmowski erkannte Pilsudski als Staatsoberhaupt an, der im Gegenzug Paderewski zum Chef einer Regierung parteiloser Fachleute und Dmowski zum Leiter der polnischen Delegation in Paris bestellte. In dieser Funktion konnte Dmowski der Konferenz am 28. Januar 1919 seine Ansprüche offiziell vortragen: Deutschland sollte nicht nur Posen und Westpreußen einschließlich Danzigs an Polen abtreten, sondern auch ganz Oberschlesien, kleinere Teile Niederschlesiens sowie mit dem Ermland und Masuren den südlichen Teil Ostpreußens. Dem nördlichen Ostpreußen mit Königsberg wiederum war ein Dasein als selbständige Republik unter Völkerbundmandat zugedacht.

Während der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau und auch Wilson diesen Forderungen zum Großteil nachzugeben trachteten, war es letztlich der englische Premierminister Lloyd George, der – nach geharnischten Protesten der deutschen Seite – noch einige wesentliche Korrekturen durchsetzen konnte: Für Oberschlesien, den Bezirk Allenstein (Masuren) und das zu Westpreußen gehörige Marienwerder wurden im Versailler Vertrag Plebiszite vereinbart, während Danzig zur „freien Stadt“ erklärt wurde und das nördliche Ostpreußen, wenn auch räumlich abgetrennt, bei Deutschland blieb. Außerdem sprach der Versailler Vertrag der künftigen deutschen Minderheit ebenso wie der ukrainischen, weißrussischen, litauischen und jüdischen Minderheit im Osten des neuen „Vielvölkerstaats“ Polen weitreichende, vom Völkerbund zu überwachende Rechte zu. Von allen polnischen Regierungen hat sich jedoch keine an diese Bestimmungen gehalten. Die ukrainische und die deutsche Minderheit bekamen dies am schmerzlichsten zu spüren. Die Zahl von etwa 1,2 Millionen Deutschen in den früheren preußischen Provinzen Westpreußen und Posen im Jahr 1919 wurde durch vielerlei Schikanen, Diskriminierungsmaßnahmen bis hin zu offener Vertreibungspolitik bis 1929 auf 350.000 reduziert. 

Daß dieser Grenzverlauf – nicht zuletzt unter dem Eindruck der 1922 trotz eines deutschen Abstimmungssieges vorgenommenen Teilung Oberschlesiens – in der deutschen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit niemals Akzeptanz fand, ist hinlänglich bekannt. Für die polnische Seite indes gilt dies ebenso. Mit Jedrzej Giertych war es ein politischer Ziehsohn Dmowskis, der 1938, unter Anspielung auf den ersten polnischen Piasten-König Boleslaw Chrobry (965–1025) im Hochmittelalter, als strategisch optimale Grenzlinie zwischen Deutschland und Polen „Chrobrys Grenze“ forderte, unabhängig von der seit Jahrhunderten etablierten Wohnbevölkerung: entlang der Flußläufe von Oder und Lausitzer Neiße.