© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

„In fliegender Hast, als ob das Wasser gurgelnd zum Abfluß drängt“
Flaschenpost aus dem Walter-Kempowski-Archiv: Die letzten Briefe an den Literaturwissenschaftler und Urfreund Jörg Drews
Oliver Busch

Um das Werk des 2007 verstorbenen Schriftstellers Walter Kempowski ist es recht still geworden. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Bundespräsident, Horst Köhler damals, sich einstellte, um anläßlich der Übergabe des Kempowski-Archivs an die Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung mit Exponaten aus dieser legendären Sammlung zu eröffnen. Da fällt der – leicht verspätet – zum 90. Geburtstag am 29. April veröffentlichte Beitrag im Mai/Juni-Heft der Kulturzeitschrift Sinn und Form (3/2019) heute schon aus dem Rahmen des allgemeinen Vergessens.

Aus dem Bergwerk dieses von Historikern und Germanisten viel zu wenig genutzten Archivs hat Simone Neteler jetzt die Korrespondenz Kempowskis mit Jörg Drews (1938–2009) ausgewählt. Freilich nur die der letzten Jahre, von 2005 bis 2007. Der Bielefelder Literaturwissenschaftler war, neben dem Biographen Dirk Hempel und dem frühen Exegeten Manfred Dierks, der wohl eifrigste und als Rezensent der Leitmedien erfolgreichste Vermittler des „deutschen Chronisten“. 

Drews zog den Romanen das Echolot-Projekt vor

Kempowskis „Urfreundschaft“ zu ihm ging in die Zeit um 1972 zurück, als der Schulmeister aus der tiefsten niedersächsischen Provinz mit dem als deutsche Zeitgeschichte geschriebenen Familienroman „Tadellöser & Wolff“ seinen literarischen Durchbruch feierte. Man begegnete sich in der gemeinsamen Verehrung für Arno Schmidt, an dessen „Zettels Traum“ (1970) sich das von Drews ins Leben gerufene, vom Meister selbst gering geschätzte „Bargfelder Dechiffrierkartell“ gerade abzuarbeiten begann. Schmidts Poetik, die den Autor anleitet, unter den Bedingungen der modernen „Auflösung der Wirklichkeit“ (Georg Lukács) mit Hilfe von Momentaufnahmen („snapshots“) die Realität trotzdem präzise erfassen und wiedergeben zu können, ist von bestimmendem Einfluß auf Kempowskis Schreiben gewesen. 

Obwohl er dies nie offen aussprach, war Drews jedoch immer der Ansicht, daß der Freund bei der Wiedergabe vergangener Lebenswelten, der in der „Deutschen Chronik“ exemplarisch präsentierten, von der Kaiserzeit bis in die frühe Bundesrepublik führenden Geschichte einer Rostocker Reederfamilie, dem Porträt des „Zeitalters der Extreme“ im großen Quellen-Mosaik des kollektiven Tagebuchs „Echolot“, ein weitaus glücklicheres Talent bewies denn als Verfasser seiner mehr oder weniger autobiographischen Romane. Dieser heimliche Vorbehalt, den der zur Mimosenhaftigkeit neigende Kempowski gegen Ende seines Lebens spürte, ist denn auch das Thema der von Neteler knapp erläuterten Briefedition.

Ihre Auswahl beginnt mit einer kurzen Mitteilung Kempowskis vom 1. Oktober 2005: „Mein neuer Roman ist fertig ‘Alles umsonst!’ Würde es Dir eine Freude machen, wenn ich ihn Dir widmete?“ Da der so Geehrte erst im März 2006 per E-Mail reagierte, dürfte Kempowski geahnt haben, daß sich die Freude von Drews in Grenzen hielt. Was das von „tiefer Achtung für gelebtes Leben“ erfüllte Nartumer Arbeitstier, das sich, wie Drews an anderer Stelle bewundernd vermerkte, „unablässig verantwortlich dafür fühlte, daß möglichst viel an deutscher Alltagsgeschichte, Familiengeschichte und Mentalitätsgeschichte aufbewahrt“ und „nicht ein Raub von Vergessen und Zerstörung“ werde, zunächst nicht registrierte, da er schon am „Plankton-Projekt“ saß, „ausgelegt auf drei Bände à 500 Seiten“, und „nebenher“ seine Memoiren zu Papier brachte. Das gehe „in fliegender Hast vor sich, es ist so, als ob das Wasser gurgelnd zum Abfluß drängt“. Zwischendurch ging noch das Tagebuch 1990 unter dem Titel „Hamit“ (erzgebirgisch für Heimat) „in die Welt hinaus“, aber das hatte der Getriebene im Moment des Erscheinens „schon fast wieder vergessen“. 

Endlich im September 2006 nimmt Drews zu „Alles umsonst!“ Stellung. Und verhehlt nicht, daß ihm „Fuga furiosa“ (1999), der Teil des „Echolots“, der das nahende Ende des Reiches im Januar und Februar 1945 protokolliert, „unsere große nationale katastrophe“, wie er im noblen Plural schreibt, stärker beeindruckt habe als der Roman, gegen dessen Widmung er sich wohl deshalb hinhaltend wehrte. Zum Bruch kam es nicht, weil Drews im Frühjahr 2007 angesichts der Krebserkrankung des empfindlich verletzten „lieben kathedralenbaumeister“ Kempowski, dem es noch in der Klinik um die „Kenntnis des Bewußtseins unseres Volkes“ zu tun war, versöhnliche Töne anschlug und die Qualitäten des Romans entdeckte.