© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Jedesmal ein Leben zerstört
Terre des Femmes: Zu Ferienbeginn warnt die Frauenrechtsorganisation vor Zwangsverheiratungen junger Mädchen in den Herkunftsländern ihrer Familien
Paul Leonhard

Morsal Obeidi ist im Alter von 16 Jahren mit 20 Messerstichen von ihrem Bruder ermordet worden, der so die Ehre der Familie wiederherstellen wollte. An diese Tat, die sich vor elf Jahren in Hamburg ereignete, sowie den Tod von Hatan Sürücü vor 14 Jahren hat zu Beginn der Sommerferien die Frauenrechte-Organisation Terre des Femmes erinnert. Die Politik müsse mehr tun, um Menschen, die von Gewalt im Namen der Ehre bedroht sind, besser zu schützen und zu verhindern, daß anderen Frauen das gleiche Schicksal widerfährt wie Obeidi und Sürücü, fordert der Verein.

Speziell für das Thema Heiratsverschleppung ins Ausland beim Sommerurlaub möchte die Organisation sensibilisieren. Jedes Jahr müßten in Deutschland aufgewachsene Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund einen Mann im Herkunftsland der Familie heiraten und fortan in einer Zwangsehe dort leben. Oder aber der Ausländer erhalte durch die Eheschließung ein „Einwanderungsticket“ nach Deutschland. Eine weitere Form des Zwangs sind „Importehen“, bei denen junge Frauen nach Deutschland geholt und mit einem hier lebenden Mann verheiratet werden.

Dunkelfeld nicht erfaßter Betroffener

Die Politik hat vor dieser Praxis lange die Augen verschlossen. Erst als Ehrenmorde in verschiedenen europäischen Ländern sowie biographische Falldarstellungen bekannt wurden, fand das Thema in den Medien ein Echo und sei damit „zum Gegenstand einer breiten öffentlichen und politischen Debatte“ geworden, heißt es in der Studie „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“ des Bundesfrauenministeriums aus dem Jahr 2011. Betroffen sind vor allem Migrantinnen türkischer Herkunft, aber auch in Deutschland lebende Frauen aus Serbien, dem Kosovo, Monetenegro, Afghanistan, Marokko, Albanien, Syrien, dem Libanon und dem Irak. Neben den Personen, die sich in den Beratungsstellen meldeten, weil sie bedroht worden waren, geht die Studie von einem „großen Dunkelfeld nicht erfaßter Betroffener“ aus.

Die Bundespolitik reagierte im selben Jahr mit einem „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat“. Auch wurde ein Straftatbestand Zwangsheirat geschaffen. Bereits sechs Jahre zuvor war Zwangsverheiratung als besonders schwerer Fall der Nötigung eingestuft worden, strafbar mit sechs Monaten bis fünf Jahren Gefängnis.

Allerdings änderten weder Gesetzesverschärfung noch Aktionspläne, Onlineberatungsprojekte, Nothilfe-Prospekte oder Workshops etwas. Weiterhin werden Frauen – und auch Männer – unter Zwang verheiratet. Besonders vor den Sommerferien steigen die Anfragen verängstigter Mädchen in Hilfs- und Beratungsstellen. „Zwangsverheiratungen in Berlin sind keine Einzelfälle“, sagt Myria Böhmecke, Referentin bei Terre des Femmes.

Mädchen sollten „auch nur bei dem geringsten Verdacht nicht in den Ferienflieger zu steigen“, rät die Berliner Frauenbeauftragte Petra Koch-Knöbel. In Nordrhein-Westfalen informierte das Mädchenhaus Bielefeld als Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat landesweit die Schulen über die Gefahr in der Hoffnung, Pädagogen für das Thema zu sensibilisieren. Man wolle keine Panik verbreiten, aber präventiv auf die Gefahr der Ferienverschleppung aufmerksam machen, sagt Beratungsstellenleiterin Sylvia Krenzel.

„Häufig stammen die Betroffenen aus Familien mit strengen patriarchalen Strukturen, die die Zwangsheirat mit Tradition oder Religion begründen oder auch als Disziplinierungsmaßnahme nutzen, wenn sich Kinder anders verhalten, als sich ihre Eltern das wünschen“, sagt Krenzel, deren Beratungsstelle jährlich mit rund 150 derartiger Fälle konfrontiert wird. In Berlin gab es im Jahr 2017 in 570 Fällen Beratungen zum Thema Zwangsehe. Die meisten Betroffenen waren Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren mit arabischen und türkischen Wurzeln. Grund für das junge Alter ist möglicherweise, daß einer früh verheirateten Tochter damit keine Zeit gelassen wird, durch voreheliche Beziehungen oder das Bestreben nach Autonomie die Familienehre in Verruf zu bringen.

Einer im November vergangenen Jahres veröffentlichten Umfrage des Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung zufolge wurden 117 Zwangsehen vollzogen, 92 waren konkret geplant, 113 wurden befürchtet. Daß die Zwangsheirat in Deutschland Alltag wird, befürchtet die Soziologin Necla Kelek von Terre des Femmes: „Da aber niemand diese Verbrechen anzeigt und diese auch nicht geahndet werden, lebt diese Tradition nach dem islamischen Familienrecht fort.“ Jede Zwangsheirat zerstöre ein Leben.