© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Pankraz,
F. P. Ingold und die tote Literaturkritik

Was zuviel ist, ist zuviel. Sowohl die vorgetragenen Originaltexte als auch die anschließenden Jury- und Kritikersprüche beim diesjährigen Lesewettbewerb zur Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises offenbarten ein derartiges Ausmaß an Unvermögen und Ratlosigkeit, daß selbst gutwilligste Zuhörer zornig sagen: „Was soll das Ganze eigentlich? Macht euren Laden endlich zu! Ihr blamiert ja nur noch die Literatur, die Autoren wie die Kritiker, die vor allem. Angesichts dieses Desasters muß man sich fragen: Gibt es Literaturkritik überhaupt noch? Oder nur noch diffuses mediales Geschwätz?“

Selbst Felix Philipp Ingold (76), der in vielen literarischen Sätteln geschickte, mittlerweile emeritierte Professor für slawische Literatur an der Universität St. Gallen, bekannt als Freund und Kommentator des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, hat (in der Neuen Zürcher Zeitung) dem Unternehmen und der dort zutage tretenden Urteilsbegründung eine Art Totenschein ausgestellt. Hatte er noch vor zwei Jahren die Klagenfurter Juroren durchaus wohlwollend ins Visier genommen, so fällt seine diesjährige Einschätzung alles in allem eher negativ aus.

Aber wie gesagt, Ingolds Beobachtungen galten heuer primär nicht den Praktiken beim Bachmann-Wettbewerb, sondern den Urteilen und Urteilsbegründungen der modernen Literaturkritik insgesamt. Es gibt, so konstatiert er, gar keine Literaurkritik mehr, auch keine „moderne“. Was es statt dessen gibt, ist nach Meinung von Prof. Ingold ein Kuddelmuddel („Netzwerk“ sagt man auch dazu)  aus Unterordnungs- und Anweisungsverhältnissen, personifiziert von Medienfürsten, Verlegern, Werbetextern, Lektoren, Juroren, Buchhändlern, Rezensenten (Kritikern) – und von Autoren.


Pankraz hält diese Perspektive für äußerst realistisch und zu vielen neuen Fragestellungen anregend. Die Rezensenten, die Kritiker, sind demnach keineswegs mehr die ausschlaggebende Kraft bei der Gestaltung dessen, was man über Jahrhunderte hinweg Schriftkultur, Literatur, Dichtung, Essayistik nannte. Ihr Einfluß ist ungeheuer geschwunden. Sie setzen keine Begriffe und Anschauungsweisen mehr, sondern übernehmen sie aus dem herrschenden Medienbetrieb. Den Autoren gegenüber führen sie sich als Lehrer auf, die lediglich Zensuren verteilen, wie sie ohnehin in den Medien vorgegeben werden. 

„Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ So wetterte einst der junge Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Zeit. Es war der höchste Zorn von Dichterseite, der je gegen die Literaturkritiker losgebrochen ist. In jüngerer Zeit haben sich Autoren wie Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser als scharfe Kritiker der Literaturkritiker auffällig gemacht. Walser brachte dabei in einem Roman zum Thema, „Tod eines Kritikers“, Invektiven in Stellung, die seinerzeit einiges Aufsehen erregten. Aber auch das ist schon wieder eine Weile her.

Walsers Polemik zielte auf die Anmaßung mancher Literaturkritiker, welche allen Ernstes behaupteten, nicht die Texte der von ihnen rezensierten Autoren, sondern ihre eigenen Rezensionen dazu seien die „eigentlichen“ Texte, allein sie machten die „Autorentexte“ zu eigentlicher, die Zeiten überdauernder Literatur. Darüber wurde damals viel gelacht, aber seitdem ist einem das Lachen ziemlich vergangen. Denn in der sogenannten philosophischen Hermeneutik sind sich die Stichwortgeber inzwischen einig darüber,  daß dem „genuin kritischen“ Text ein eminent mächtiges parasitäres Element innewohnt.

Er kann zwar ohne den Urtext nicht bestehen, geht aber dennoch über ihn hinaus, „erklärt“ ihn und läßt ihn gewissermaßen verdunsten, auch ökonomisch. Immer mehr Leute lesen nur noch Kritiken und glauben, damit bestens bedient und hinreichend informiert zu sein. Wahrscheinlich ist auch der Kritiker selbst tief innerlich davon überzeugt, daß sein eigener, kritischer Text der „eigentliche“ Text sei, der das Wesentliche des Urtextes „freilegt“, diesem gleichsam die Haut abzieht. Der Urtext wird zum bloßen „Kontext“. Jacques Derrida forderte schon ganz unverblümt „die Herrschaft des kritischen Textes über den Urtext“.


Das Kunstwerk, also der Urtext, ist für Derrida noch zu sehr mit „Logik“, nämlich mit den subjektiven Eierschalen seines Urhebers, dessen privaten Erlebnissen und Vorlieben, behaftet. Erst dem Kritiker oder Hermeneuten gelingt es, die Eierschalen abzustreifen, das Kunstwerk aus den Fängen des Autors zu lösen und in den „freien Tanz der Sprache“ zu überführen. Der Autor sei, mag sein, die Mutter (oder Stiefmutter) einer Dichtung, der Kritiker jedoch sei ihr Bräutigam. Er behalte am Ende die Oberhand, er forme das Kunstwerk erst zu dem, was es nach den Regeln der Sprache sein kann.

Gelegenheits- oder Auch-Kritiker, so die „Anti-Logiker“ à la Derrida, seien ja meistens Mitglieder von Cliquen, benutzten beim kritischen Geschäft selbstverständlich die Maßstäbe ihrer Clique, der von ihnen propagierten Richtung. Sie trügen damit natürlich, gleichsam unbewußt, ebenfalls zur Formung der Gesellschaft bei. Doch mit der Position des „reinen Nur-Kritikers“ habe das nichts zu tun. Dieser sei wahrer Angehöriger der „Geisteswelt“! Er stehe haushoch über sämtlichen Parteien und Teilmaßstäben, er beansprucht, der einzig geeignete Retter des Klimas und der Welt zu sein.

Mit nüchternen Worten gesagt: „Tanz der Sprache“, also Preisgabe jeglicher Sprachlogik, als Mittel zur Rettung der Welt  – mit derlei Unsäglichkeiten überzieht uns jetzt tagtäglich  der herrschende linke Zeitgeist, und ihre besten Propheten sind, nimmt man die Reden von Derrida (Gott hab ihn selig) & Co. ernst, die „reinen“, professionellen Nur-Kritiker! Da freut man sich dann doch über die Analysen von Felix Philipp Ingold, wonach jene Kritiker, die Literaturkritiker, in strenge Netzwerke eingebunden werden und immer mehr an Einfluß und öffentlicher Aufmerksamkeit verlieren.