© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Mit Nietzsche befreundet
Fernöstliche Heilsbotschaften für die entzweite europäische Seele: Zum hundertsten Todestag des Philosophen und Indologen Paul Deussen
Dirk Glaser

An den Universitäten und Hochschulen des deutschen Kaiserreichs bestimmten die Professoren selbst, wann es Zeit war, sich zur Ruhe zu setzen. Es gab für sie keine gesetzlich fixierte Altersgrenze. Ein Privileg, das nach dem Regimewechsel im November 1918 die neuen, demokratischen Kultusminister der Weimarer Republik schnellstens abschafften, um die studentische Jugend dem Einfluß, so die nicht abwegige Unterstellung, wenigstens der ältesten Monarchisten unter den Hochschullehrern zu entziehen und deren Lehrstühle für jüngere, so die vage Hoffnung, republikanisch gesonnene Kräfte frei zu machen.

Diese als Zwangsemeritierung empfundene Maßnahme traf im Frühjahr 1919 auch den Kieler Philosophen Paul Deussen, einen Mittsiebziger des Jahrgangs 1845, der sein Fach seit 1889 an Preußens nördlichster Universität vertrat. Als ehemaliger Gymnasiallehrer, der sich in den nebenher von ihm unterrichteten „Leibesübungen“ selbst eifrig betätigt hatte, als passionierter Turner, Radfahrer und Wanderer, wollte sich Deussen aber nicht über Nacht zum alten Eisen werfen lassen. Er fühle sich noch frisch und allen Anforderungen des Amtes gewachsen, teilte er daher dem sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch mit. Eine fatale Selbstüberschätzung, wie sich am 4. Juli 1919 herausstellte, als der Gelehrte, der sich wochenlang schwerkrank zur Vorlesung schleppte, im Kolleg zusammenbrach. Zwei Tage später starb Deussen so wie er es sich stets gewünscht hatte, im Geschirr des Arbeitspferds, „in den Sielen“.

Selbst Spezialisten der Philosophiegeschichte wissen mit dem Namen des Mannes heute zumeist nichts mehr anzufangen, von dem Friedrich Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) spricht als vom „ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Eu-ropa, meinem Freunde Paul Deussen“. Diese enge Beziehung zu Nietzsche ist es denn auch, die ihn als eine Art Eckermann-Figur vor dem vollständigen Vergessen bewahrt hat. Nur unter dem Titel „Nietzsches Freund“ (Böhlau Verlag, Köln/Wien 2008) durfte folglich die einzige Biographie, die in den letzten 100 Jahren über den Historiker und Systematiker hinduistischer Lehrgebäude erschienen ist, zumindest auf ein Minimum an Aufmerksamkeit spekulieren.

Thomas Mann bediente sich bei aus Deussen

Ihr Verfasser, der Schriftsteller Heiner Feldhoff, der im Dorf Oberdreis im Westerwald lebt, dem Geburtsort Deus-sens, legt dessen Lebensgeschichte in einer überaus lesenswerten Darstellung, ausgehend von einer heimatkundlichen Spurensuche „im Meer von Pietismus und Philisterei“ (Friedrich Engels), als kontrastive Charakteristik zweier Kinder des protestantischen Pfarrhauses an, in deren Werdegang sich deutsche Geschichte und Geistesgeschichte zwischen der Revolution von 1848 und dem Zusammenbruch von 1945 in hoher Konzentration verdichtet. Was ein versierter Kompilator wie Thomas Mann durchaus zu nutzen wußte, wenn er sich bei der Gestaltung seines „Doktor Faustus“ Adrian Leverkühn im zentralen Punkt der „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“ bediente, die Deussen ein Jahr nach dessen Tod (1900) veröffentlichte. Hier fand Mann die epische Keimzelle seines deutsche Geschichte als „Höllenfahrt“ kreierenden Nietzsche-Romans (1947), Deussens Anekdote über jenen Bordell-Besuch seines noch „unschuldigen“ Bonner Kommilitonen, auf den die 1889 in Paralyse und Wahnsinn mündende Geschlechtskrankheit des Philosophen zurückging.

Thomas Mann übernahm nicht nur ganze Passagen aus Deussens Erinnerungen, er verlieh auch seinem Chronisten, dem Leverkühn-Freund Serenus Zeitblom, unverkennbare Züge des Kieler Professors, der wie Feldhoff zutreffend resümiert, im Gegensatz zum Fundamentalisten Nietzsche, der die Umwertung aller Werte predigte, ein konservativer, platonischer Idealist gewesen sei, dem Elitären zuneigend, aber kein Verächter der „Massen“ wie der Anbeter des „Übermenschen“. Zudem, verheiratet mit einer Jüdin, eher humanitär denn christlich gesonnen, aber kein militanter „Antichrist“ und „Gott ist tot“-Rufer wie jener, so daß es ihm leichtfiel, sich in die, wie er meinte, durch Sozialreform beständig zu verbessernden gesellschaftlich-politischen Verhältnisse unter der Hohenzollerndynastie zu fügen und in der Kieler Universitätsaula auch Thron und Altar in einer Kaisergeburtstagsrede zu huldigen. Während Nietzsche in seinen letzten Wahnsinnszetteln, aus Turin im Januar 1889, ankündigte, Bismarck und den jungen Wilhelm II. erschießen zu wollen.

So weit war die im Internatsgymnasium von Schulpforta 1860 geschlossene, in Bonn durch den gemeinsamen Wechsel von der Theologie zur Philologie gefestigte Beziehung beider Pastorensöhne schließlich auseinandergedriftet, daß der eine sich gerade als preußischer Ordinarius etablierte, als der andere sich geistig auflöste. Dabei gingen sie als entlaufene Theologen von derselben epochalen Herausforderung aus: der metaphysischen Obdachlosigkeit, die mit der säkularisierten Massengesellschaft des Industriezeitalter heraufzog. Nur ihre Antworten darauf fielen so verschieden aus, daß die persönliche Entfremdung sich zwangsläufig vollzog.

Europäische Faszination für fernöstliche Spiritualität

Die relativistische, überkommene Wertetafeln zertrümmernde Philosophie Nietzsches stiftete an Stelle der christlichen keine neue Weltanschauung und hob die entstandene moderne „Zweiheit“ und Entfremdung zwischen Ich und Welt nicht mehr auf. Anders als die Aneignung der indischen Weisheit, um die sich Deussen, von Arthur Schopenhauer kommend, seit 1885 bemühte, als ihn sein „System des Vedânta“ international in die erste Reihe der akademischen „Indomanen“ rückte. Denn in der mystischen Lehre des weisen Shankara (um 800 nach Chr.) ist das individuelle Selbst identisch mit der Weltseele, mit Brahman, dem All-Einen. Das europäische Leiden an Subjekt-Objekt-Spaltung versprechen die östlichen Heilsbotschaften daher zu kurieren. 

Mit diesem „System“, mit seiner Geschichte der Philosophie, die ganz unkonventionell drei von sechs Bänden dem indischen Denken seit der Philosophie des Veda widmet und mit seiner Übersetzung von „Sechzig Upanishad’s des Veda“ (1897) inspirierte der Anti-Kolonialist und Kosmopolit Deussen einerseits das Selbstbewußtsein hinduistischer Intellektueller wie Mahatma Gandhi, so daß ihn sein Biograph Feldhoff unter die großen Anreger der indischen Unabhängigkeitsbewegung zählt. Andererseits weckten seine Veda-Deutungen und Übersetzungen schon vor dem Ersten Weltkrieg die europäische Faszination für fernöstliche Spiritualität, deren Rezeption bald nach

Deussens Tod ihre erste Hochkonjunktur gerade in Deutschland erlebte. Befeuert nicht zuletzt von Hermann Hesses für das „Einheitsdenken“ werbender „indischer Dichtung“, dem Roman „Siddharta“ (1922), der unter dem Einfluß der Lektüre von Deussens Werken entstanden ist.