© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Frontalangriff statt Sichelschnitt
Vor 75 Jahren brach die „Heeresgruppe Mitte“ zusammen / Sowjetische Stoßrichtung falsch eingeschätzt
Egon W. Scherer

Es war eine Katastrophe, weitaus schlimmer als die Tragödie von Stalingrad. Auf den Tag genau drei Jahre nach dem Beginn des deutschen Einfalls in die Sowjetunion, am 22. Juni 1944, startete Stalin seine große Sommeroffensive (Operation Bagration), die binnen weniger Wochen zum völligen Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte führte. 28 deutsche Divisionen wurden zerschlagen, rund 400.000 Soldaten fielen, waren vermißt, verwundet oder gefangen. Die Tatsache, daß 21 Generäle der Wehrmacht unter den Gefangenen waren, verdeutlicht das Ausmaß der Niederlage. Neun weitere Generäle fanden den Tod. Auf einer Frontbreite von 1.100 Kilometer vorgetragen, hatte der Vorstoß bis zu 600 Kilometern weit nach Westen geführt. Ganz Weißrußland, der Rest der Ukraine und Teile Litauens waren zurückerobert worden. 

Zwar war der sowjetische Großangriff von den Deutschen erwartet worden, aber über seine Stoßrichtung hatte man sich gründlich getäuscht. Hitler selbst glaubte felsenfest, daß die Rote Armee ganz anders angreifen werde. Um das zu verstehen, muß man sich den Verlauf der Ostfront im Sommer 1944 vor Augen halten. Nachdem die Kämpfe im Winter und Frühjahr zum Verlust fast der ganzen Ukraine geführt hatten, war die Front im Süden weit nach Westen zurückgedrängt (JF 8/19). Nördlich davon aber ragte der „Frontbalkon“ der Heeresgruppe Mitte über 400 Kilometer weit nach Osten vor. Die deutschen Heeresgruppen Mitte und Nord standen also im Frühsommer 1944 immer noch tief in Rußland, boten dem Gegner aber im Süden eine tiefe Flanke. 

Auch Hitlers engste militärische Berater waren überzeugt, daß diese Lage den Gegner dazu verlocken mußte, von Galizien aus, zwischen den Pripjetsümpfen und den Karpaten, in einer Art „Sichelschnitt“ mit einem Stoßkeil nach Norden, zur Ostsee, nach Königsberg und Danzig durchzubrechen und somit beide Heeresgruppen in einem Riesenkessel einzuschließen. Und deshalb wurden nahezu alle verfügbaren Reserven, immerhin vier Panzerkorps mit acht Panzer- und zwei Panzergrenadierdivisionen, im Raum nördlich Lemberg versammelt, um dem Gegner an dieser gefährdeten Stelle gewachsen zu sein und ihn hier schlagen zu können. Aber die Sowjets, nach wie vor allzu kühnen Aktionen abgeneigt, gingen keineswegs in diese Falle, sondern starteten einen simplen Frontalangriff auf breiter Front. 

Zwischen dem 22. und 24. Juni 1944 setzt sich die „Russische Dampfwalze“ nacheinander an drei Abschnitten in Bewegung, marschieren vier sowjetische Heeresgruppen mit insgesamt 1.400.000 Soldaten, ausgerüstet mit 31.000 Geschützen und „Stalinorgeln“, 5.200 Panzern und 5.300 Flugzeugen, gegen die vier deutschen Armeen der Heeresgruppe Mitte mit ihren 34 Divisionen und einer einzigen Panzerdivision. Die Niederlage der stark unterlegenen Verteidiger wurde noch beschleunigt durch die von Hitler veranlaßte Haltetaktik, nach der „Feste Plätze“ als Wellenbrecher in der roten Flut stehen bleiben sollten. 

Eine zusammenhängende Front gab es nicht mehr

Verkehrsknotenpunkte und Versorgungszentren sollten sich demnach im Angriffsfall vom Gegner einschließen lassen, um Feindkräfte zu binden und so die Stoßkraft des Angreifers zu brechen. Den Verteidigern aber fehlten die dort gebundenen Divisionen in der beweglichen Kampfführung, um die durchbrochenen Fronten wieder zu schließen.

Schon am 28. Juni gab es keine feste, zusammenhängende Front mehr, nur überall Durchbrüche und Rückzüge. Zwei Tage zuvor hatte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Feldmarschall Ernst Busch, bei Hitler um mehr freie Hand bei Führung seiner Verbände ersucht, insbesondere die Aufgabe der „Festen Plätze“. Die Forderungen wurden abgelehnt und Busch mußte seinem Nachfolger Platz machen, dem großen „Steher“, Feldmarschall Walter Model. Er übernahm die Heeresgruppe Mitte und behielt gleichzeitig den Oberbefehl über die frühere Heeresgruppe Süd, jetzt Nordukraine. Aber auch dieser vielfach bewährte Heerführer konnte die Katastrophe nicht mehr abwenden, an der auch der massive Einsatz von Partisanen hinter der deutschen Front entscheidenden Anteil hatte. 

Ende Juli stehen die Sowjets in Warschaus Vororten

Am 3. Juli 1944 fällt Minsk, die Hauptstadt Weißrußlands, Sitz des Oberkommandos der Heeresgruppe Mitte. Am 8. Juli sind die Sowjets in Baranowitschi, am 13. Juli in Wilna.  Am 18. Juli überschreiten die Angreifer die polnische Grenze. Lublin, die erste größere polnische Stadt, wird am 24. Juli erobert. Lemberg und Bialystok werden am 27. Juli eingenommen, am 28. Juli fällt Brest-Litowsk und zeitgleich überqueren russische Truppen schon die Weichsel. Und im Norden steht die Rote Armee nur in knapper Entfernung östlich der ostpreußischen Grenze. In den letzten Juli-Tagen erscheinen die Sowjets vor Praga, einem östlichen Vorort Warschaus. Nicht ohne Grund wollte die Untergrundarmee Armia Krajowa diesen Umstand nutzen und begann in der polnischen Hauptstadt ihren Aufstand gegen die Deutschen in der Hoffnung auf rasche Unterstützung der herannahenden Sowjets. Diese Hoffnung sollte sich jedoch zerstreuen. Stalin dachte nicht im Traum daran, den Deutschen bei der Niedertschlagung des Warschauer Aufstandes in die Parade zu fahren.

Nach ihrem großen Triumph über die Wehrmacht ließen die übermütigen Sieger eine riesige Kolonne von über 50.000 deutschen Kriegsgefangenen, Generäle und Offiziere an der Spitze, in einer Prozession durch die Straßen von Moskau ziehen. Ergötzliches Schauspiel für die Bevölkerung, eine demütigende Tortur für die Gefangenen.