© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Eine Nation durch Hunger zähmen
Die US-Historikerin Anne Applebaum über Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine nach 1932
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Der gegenwärtige Konflikt zwischen Moskau und Kiew dürfte weiterhin andauern, denn bis heute beharrt Rußland auf der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2019 feierten die Offiziellen in Mosklau den fünften Jahrestag der „Wiedervereinigung Rußlands mit der Krim“. Moskauer Medien sprechen beim Konflikt in der Ost-Ukraine grundsätzlich von „separatistischen Patrioten“, die gegen die „Faschisten in Kiew“ kämpften. Immer noch setzt der Kreml verschiedenste Mittel ein, um die ukrainische Souveränität zu untergraben.

Seit dem Mittelalter gibt es eine eigene ukrainische Sprache; allerdings gehörte dieses Gebiet seit dem 18. Jahrhundert zum Russischen Reich, die Existenz einer ukrainischen Nation wurde während der Zarenzeit zunehmend als Bedrohung angesehen, besonders nach  Entstehung der Nationalbewegung der Ukraine Ende des 19. Jahrhunderts. Ebenso dachten die Bolschewiken, die 1918 Kiew mit getarnten Truppen als „Sowjetukrainische Befreiungsbewegung“ besetzten; wesentlicher Grund war, durch Beschlagnahme des dortigen reichen Getreideanbaus ihre revolutionären Truppen zu ernähren. Es kam zu weitverbreiteten Bauernaufständen, die 1921 erstmals zu einer Hungersnot in der Ukraine und nicht zuletzt dadurch zu einer scharfen Ablehnung des Sowjetsystems führten.

Auch Stalin war besessen von der Vorstellung, er könne zwischen Donez und Dnjestr die Kontrolle verlieren und der ukrainische Nationalismus sei eine Kraft, die dem Bolschewismus gefährlich werden könne. In seiner Ansicht, Großbetriebe wären erfolgreicher und daß die Revolution auch auf dem Land zu vollziehen sei, führte er die Kollektivierung ein: Aus freien Bauern wurden bezahlte Landarbeiter, deren Motivation sehr zurückging. Jeder Gegner der Kollektivierung wurde zum Feind Moskaus gemacht. Bis 1933 verbannten Stalins Schergen über zwei Millionen Bauern nach Sibirien und Zentralasien, viele von ihnen wurden ermordet. Stalin erhöhte den Export ukrainischen Getreides, um Devisen für den Aufbau seiner Maschinenindustrie zu erlangen. Es kam erneut zur Hungersnot, doch die Lebensmittelexporte aus der Ukraine gingen unvermindert weiter.

Den erzwungenen Hungertod von über drei Millionen Ukrainern bis 1933 stellt die bekannte Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum anhand vieler Unterlagen und Zeugenaussagen auf sehr eindrückliche Weise dar: Hunger veränderte den Charakter der Menschen, der Wunsch zu essen war stärker als alles andere – selbst als familiäre Gefühle. „Vom späten Frühjahr 1933 an war Kannibalismus weit verbreitet. Viele Überlebende erlebten Kannibalismus oder – weit häufiger – Nekrophagie, das Verzehren von Leichen von Hungertoten“, schreibt die Autorin. Der erschütterte Leser erfährt, das Phänomen sei bis weit ins Jahr 1934 weder in Kiew noch in Moskau ein Geheimnis gewesen. Es war keine Seltenheit, daß hungernde Eltern ihre Kinder töteten und deren Fleisch aßen. Die Verfasserin schreibt zum Verhalten der Sowjetführung: „Es gibt keine Anzeichen, daß überhaupt irgend etwas übernommen wurde. Die Berichte wurden verfaßt und von Funktionären in Empfang genommen, dann abgeheftet und vergessen …“

Viele im Ausland waren über Massensterben informiert 

Folge war ein Arbeitskräftemangel in der Ukraine. Voller Optimismus zogen viele Russen dorthin, um bald enttäuscht zurückzukehren. Neue Deportationswellen und „Parteisäuberungen“, viele unter Befehl von Nikita Chruschtschow, erfolgten; von zwölf Mitgliedern des Politbüros der ukrainischen KP waren nur vier Ukrainer. Hatte Moskaus Propaganda hungernde Bauern 1921 noch als Opfer hingestellt, wurden sie ab 1933 als sogar als „Feinde der Sowjetmacht“ abgestempelt. Ausländische Diplomaten waren über die Situation in der Ukraine informiert, auch große Zeitungen berichteten darüber – doch die Welt schwieg, oft angesichts der notwendigen Getreideimporte aus Moskau.

Als 1941 deutsche Soldaten in die Ukraine einmarschierten, wurden sie vielerorts im trügerischen Glauben an eine bessere Zukunft herzlich begrüßt. Doch auch Hitler hatte nur Interesse an den dortigen materiellen und menschlichen Ressourcen, über eine Million Ukrainer kamen als Zwangsarbeiter nach Deutschland. Nach 1945 organisierten sich die Überlebenden in den USA und Kanada und verbreiteten die Wahrheit über die Verbrechen unter Stalin in ihrer Heimat. Bis 1970 wurden über eine Million Russen dort angesiedelt, worunter die Nationalbewegung sehr litt. Es waren dann Radio Liberty und BBC, die immer wieder an die historische Katastrophe in der Ukraine erinnerten. Die Explosion am Atomkraftwerk im ukrainischen Tschernobyl erschütterte Gorbatschow, der laut Applebaum danach befahl, die Wahrheit über Stalins Hungerkrieg zu enthüllen und das befohlene Schweigen vieler damals noch lebender Zeitgenossen zu brechen. Die nationale Katastrophe der dreißiger Jahre hat sich bis zum heutigen Tag tief in das kollektive Bewußtsein der Ukraine eingebrannt. 

Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler-Verlag, München 2019, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 36 Euro