© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Wenn nachts Schüsse fallen
Illegale Tötung von Wild- und Nutztieren: Ende der Wildschütz-Romantik und neue Probleme
Bernd Rademacher

Der Wilderer ist zum Teil eine romantische Figur. Man denkt an legendäre Wilddiebe, die oft Volkshelden waren, wie der Wildschütz Georg Jennerwein, der 1877 erschossen wurde und dessen Lied zwischen Schlier- und Tegernsee jeder kennt. Im österreichischen St. Pankraz gibt es sogar ein Wilderermuseum, das den „Rebellen der Berge“ huldigt.

Etwa 1.000 Fälle pro Jahr

Als die Feudalherren das Jagdrecht exklusiv für sich reklamierten und dem niederen Volk nur noch das „Niederwild“ blieb, setzten sich kühne Männer darüber hinweg und jagten illegal. Das erforderte exzellente Ortskenntnisse und Geschicklichkeit. Die Romantik des 19. Jahrhunderts stilisierte die Wilddiebe zu Helden und feierte sie in der Literatur.

Wilderer gibt es heute noch, aber mit Romantik haben sie nichts zu tun. Seit 2010 werden in Deutschland jährlich konstant rund tausend Fälle von Wilderei erfaßt, Dunkelziffer unbekannt. Bei einer Umfrage auf dem Jagdblog „Jagderleben.de“ gaben über 70 Prozent der befragten Jäger an, daß in ihrem Revier schon einmal oder mehrfach gewildert worden ist.

Einige Fälle: Bei Pösing (Bayern) fand ein Jäger zwei tote Schwäne mit fachmännisch ausgelösten Brüsten und Keulen. In Ruhpolding wurde ein Hirsch illegal erlegt. In Lengerich (NRW) fallen immer wieder Schüsse, ohne daß sich ein Schütze ermitteln läßt. Es wurden bereits vier Rehe mit Schußwunden gefunden. In Hilperhausen (Hessen) kam es in sechs Monaten zu sechs Vorfällen. Bei Flensburg sucht die Polizei die „Vollmondbande“, die regelmäßig nachts Rehwild schießt. Man vermutet kommerzielle Interessen. Im Kreis Segeberg wurde eine Drahtschlinge für den Fang von Rehwild entdeckt. Bei Brandenburg ist ein Rehbock mit Pfeil und Bogen getötet worden.

Wilderei ist eine Gefahr für den Artenschutz: Im Bayerischen Wald verschwinden regelmäßig Luchse. Seit 2010 wurden mindestens fünf getötet, 14 werden vermißt. Da Luchse sehr heimlich leben und Reviere von zwei- bis dreihundert Quadratkilometer durchstreifen, können kaum Einzelpersonen dahinterstecken. Experten haben den Verdacht, daß hier sogar illegal konspirative Jagdsafaris für zahlende Kundschaft angeboten werden.

Leider ist die Verfolgung ausgesprochen schwierig. Jäger und Förster dürfen Wilderer nur auf frischer Tat nach dem Jedermannrecht festnehmen, nicht aber bei bloßem Verdacht. In Rheinland-Pfalz gab es eine haarsträubende Justiz-Debatte darum, ob Fotos von Wildkameras, die Wilderer überführen könnten, vor Gericht als Beweismittel abgelehnt werden müssen, weil sie angeblich gegen Datenschutzrecht verstoßen. Die Polizei sieht sich personell überfordert, die Staatsanwaltschaften sehen nur selten öffentliches Interesse.

Entsprechend lasch sind die Strafen, die meisten Täter kommen mit Bußgeldzahlungen davon. Im Januar 2019 wurden zwei Männer, die Gämsen gewildert hatten, in Innsbruck zu je 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit und Zahlung von lediglich 100 Euro verurteilt. Dabei ginge es auch anders. Die Rechtslage gestattet es Richtern durchaus, private Autos einzuziehen, wenn diese für die illegale Jagdausübung genutzt wurden, zum Beispiel zum Auskundschaften eines Reviers. Zur Wilderei zählt übrigens nicht nur der Abschuß, sondern laut Definition bereits das „Nachstellen“, also das Aufsuchen des Wildes. Obacht, das kann unter Umständen sogar für Hobbyfotografen gelten.

Und manchmal endet ein Wildschützleben auch heute noch mit einem blutigen Drama wie in den Heimatfilmen der Nachkriegszeit: Der „Wilderer von Annaberg“ hatte bereits acht Hirsche erlegt, als er 2013 in eine Polizeikontrolle geriet. Er schoß sich den Weg frei und tötete drei Polizisten und einen Sanitäter. Als hundert Beamte sein Anwesen umstellten, beging er Selbstmord. Im Jahr zuvor kochten die Emotionen über den Tod des Wilderers Pius Walder wieder hoch, der von einem Jäger erschossen wurde. Beim Begräbnis des Todesschützen kam es zu wüsten Rangeleien und Racheschwüren zwischen Jägern und Angehörigen des Tirolers.

Ein neues Phänomen ist dagegen illegale Tiertötung, der Weidetiere zum Opfer fallen, bevorzugt Schafe und Ziegen. Allerdings nicht durch den umstrittenen Wolf, sondern durch „Unbekannte“, beispielsweise im September 2018 vier Tiere in der Rheinpfalz, im letzten Dezember zehn in der Wetterau. Die Polizei geht von einem „religiösen Hintergrund“ aus. Im Herbst vergangenen Jahres verschwand im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte gleich eine ganze Herde. Im Mai 2019 wurden in der Gemeinde Hürtgenwald acht Schafe geschächtet und zuvor brutal mit Draht an den Beinen gefesselt. Im April wurden bereits auf einer Nachbarwiese fünf Schafe auf dieselbe Weise getötet.