© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Vom hohen Roß
Seenotrettung: Beim Kult um Carola Rackete offenbart sich ein gefährlicher neudeutscher Größenwahn
Thorsten Hinz

Der Kult um die Sea-Watch-3-Kapitänin Carola Rackete ist die Komplementärveranstaltung zur Kampagne „gegen Rechts“, die dem Mord am CDU-Mann Walter Lübcke folgte. Nachdem die patentierten Statthalter der Demokratie sich im schweißtreibenden Kampf gegen das Böse verausgabt haben, dürfen sie in der Feier einer Ikone des Guten frische Kräfte tanken.

Typischerweise bedenken sie nicht, daß die Vorgänge im Mittelmeer keine interne Angelegenheit sind; es handelt sich um ein Politikum auf internationaler Ebene. Was als „Seenotrettung“ firmiert, stellt eine Beihilfe zum kriminellen Schleppertum dar. Nebenbei hat Frau Rackete die Souveränität, die territoriale Hoheit und die Gesetze Italiens mißachtet und die Besatzung eines Patrouillenbootes in Gefahr gebracht. Zur Lebensrettung hätte es völlig ausgereicht, die Bootsinsassen zum libyschen Ausgangshafen zurückzubringen. Doch der Geisterfahrerin auf hoher See ging es um die politische Demonstration und den symbolischen Wiedergutmachungsakt: Als „weiße Deutsche, die in einem reichen Land mit dem richtigen Paß“ geboren worden sei, habe sie die moralische Verpflichtung, denjenigen zu helfen, die nicht die gleichen Möglichkeiten wie sie gehabt hätten. Sie und ihre Gesinnungsfreunde wollen den Italienern und ganz Europa eine Einwanderungspolitik aufzwingen, die ihnen moralische Befriedigung verschafft. Ungefragt bürden sie anderen die Konsequenzen ihrer pubertären Gewissenskonflikte auf.

Wenn eine überdrehte und selbstherrliche Individual-Moral die Beziehungen zwischen den Ländern bestimmt, werden sie unberechenbar und ist das Chaos sicher. Daran verschwenden die Spitzen-Diskutanten und -Kommentatoren in Deutschland jedoch kein Wort. Vielmehr verleihen sie den Eigenmächtigkeiten der Egomanin eine metapolitische, ach was, eine transzendentale Dimension. Hamburgs Erzbischof hat die 31jährige reflexhaft zur Beinahe-Heiligen in der Nachfolge Jesu Christi erhoben. Politiker, Journalisten und sogar Wirtschaftsvertreter nehmen den religiös gestimmten Ton ungeprüft auf.

Der blasse Sachwalter im Schloß Bellevue und der Außenminister haben der italienischen Justiz und Regierung umgehend klargemacht, wie die einzig mögliche Entscheidung über die arrestierte Rackete auszusehen habe. Verständlicherweise hat das den italienischen Innenminister Matteo Salvini zu der Ansage veranlaßt, Steinmeier und Maas sollten sich gefälligst um die Probleme im eigenen Land kümmern. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erweist sich zuverlässig als das Referenzblatt bundesdeutscher Inferiorität und verkündet, die Sea-Watch-Betreiber hätten „die Moral auf ihrer Seite“. Und Siemens-Chef „Joe“ (eigentlich: Josef) Kaeser twitterte: „Menschen, die Leben retten, sollten nicht verhaftet werden. Menschen, die töten, Haß und Schaden säen und fördern, sollten es.“

Unbekümmert setzt der bundesdeutsche Michel sich über das Völkerrecht, über nationale Gesetze, über diplomatische Gepflogenheiten und Höflichkeitsregeln hinweg und betreibt vom Hochsitz der Hypermoral die Neuordnung der Welt als ethisch korrekten Großraum. Vor dem Hintergrund einer amoralischen NS-Vergangenheit war es zunächst angängig, stärker als andere den moralischen Aspekt in der Politik hervorzuheben. Längst ist das Mittel zum Zweck geworden, hat sich als Hypermoral verselbständigt und ist in einen „moralischen Imperialismus“ (Viktor Orbán) umgeschlagen, der dazu neigt, andere Völker und Staaten als moralisch minderwertig zu klassifizieren und sich über sie zu erheben. Heute trifft es Italien, gestern traf es die Ungarn und Polen, vorgestern die Griechen, morgen wird Rußland und übermorgen wieder Donald Trump an der Reihe sein.

Der Größenwahn bundesdeutscher Spielart macht Deutschland als Partner unmöglich, zur Führung in Europa ungeeignet und international lächerlich. Denn dem Ausland bleibt ja nicht verborgen, wie gleichzeitig Deutschlands Substanz schwindet; wie die ungesteuerte Zuwanderung es beschädigt; wie seine Infrastruktur buchstäblich zerbröselt; wie seine technische und intellektuelle Leistungsfähigkeit abnimmt.

Arnold Gehlen hat über das in zwei Weltkriegen besiegte Deutschland geäußert, widerlegte Völker neigten, um Schonung zu erlangen, zur Missionierung der anderen. Auch diese Schwundstufe der Außenpolitik verlangt ihren Akteuren viel ab: Diskretion, Geduld, die Fähigkeit zur Empathie. Gehlens Prognose war übertrieben optimistisch, denn die politische Mentalität, die heute die Medien, Parteien, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Verbände durchwirkt, ist besserwisserisch, infantil, autoaggressiv. Zwei verinnerlichte Zielvorgaben schälen sich als handlungsleitend heraus: Die europäischen Staaten als souveränes Ordnungsprinzip, als Einheit von Territorium, Staatsvolk, Staatsgewalt, sollen außer Kraft gesetzt und Europa als „weißer“ Kulturraum abgeschafft werden.

Die Tendenzen sind zwar auch in anderen Ländern wirksam, wie Jean Raspails visionäres „Heerlager der Heiligen“ und zuletzt Douglas Murrays Buch „Der Selbstmord Europas“ zeigen. Vor allem entspringen sie den universell wirksamen, egalitären Instinkten der Massengesellschaft. „Massen entstehen“, so Karl Jaspers, „wo Menschen ohne eigentliche Welt, ohne Herkunft und Boden verfügbar und austauschbar werden.“ Eine Erfahrung, die Deutschland im 20. Jahrhundert nachdrücklicher als andere Nationen ereilt und die seine politische DNS geprägt hat. Sie erklärt die hypermoralische Avantgarde-Position, die es jetzt einnimmt und den anderen Ländern Gründe liefert, die deutsche Frage als einen medizinischen Fall zu begreifen, vor dem man sich in acht nehmen muß.