© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Wacklige Angelegenheit
Große Koalition: Auch in Berlin streiten SPD und Union über die Causa von der Leyen
Jörg Kürschner

Kurz vor der für Dienstag geplanten Wahl der neuen EU-Kommissionspräsidentin zeigt sich die Berliner Koalition verunsichert, ob die Kandidatin der 28 Staats- und Regierungschefs, Ursula von der Leyen, mit einer Mehrheit im Europäischen Parlament (EP) rechnen kann. Während die CDU-Politikerin in Brüssel insbesondere bei Abgeordneten der SPD und Grünen auf Stimmenfang ging und diese durch inhaltliche Zusagen ködern will, gibt es in Berlin vorsichtige Spekulationen über ihre Nachfolge als Verteidigungsministerin. 

Ex-Parteichef Gabriel fordert Koalitionsbruch

Doch die durch das Wahlergebnis vom 26. Mai gestärkten Grünen stellten selbstbewußt Bedingungen für die Wahl. „Wir sind nicht billig. Wir sehen wirklich keine guten Gründe, warum wir für sie stimmen sollten“, meinte die Co-Fraktionsvorsitzende Ska Keller nach einem Treffen mit der Kandidatin. Die Grünen wollten „einen echten Wandel“, etwa eine europäische Seenotrettung und einen entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel. Als äußerst sperrig erwiesen sich auch die Sozialdemokraten. 

Nach den tagelangen Hinterzimmergesprächen der Staats- und Regierungschefs waren sie von der Nominierung der 60jährigen kalt erwischt worden. In seiner ersten Erregung hatte Ex-Parteichef Sigmar Gabriel gar einen Bruch der Koalition wegen des „Brüsseler Schmierentheaters“ gefordert. 

Und die gerade als Justizministerin zurückgetretene und vom EP zur Vizepräsidentin gewählte Katarina Barley kündigte trotzig ihre Neinstimme an. Später bemühte sich die derangierte SPD-Spitze, eine neue Belastungsprobe für die Koalition zu vermeiden. Es gehe nicht um die Person von der Leyen, sondern um das Prinzip des Spitzenkandidaten, stellte die kommissarische Parteichefin Malu Dreyer klar. Dieses war vor fünf Jahren mit dem amtierenden Kommissionspräsidentin Jean-Claude Juncker, dem Kandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), erfolgreich, doch hatten Konservative und Sozialdemokraten bei der jüngsten Wahl erstmals seit 40 Jahren ihre rechnerische absolute Mehrheit im EP verloren. Da von der Leyen nicht auf dem Wahlzettel gestanden hatte, fühlte sich die SPD durch deren Nominierung überfahren und erzwang bei der Abstimmung die Enthaltung Angela Merkels, der einzigen unter den 28 Staats- und Regierungschefs.

Was CDU und CSU, die sich unter Berufung auf ihre früheren Kanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl gern als die führenden Europaparteien verstehen, als tiefe Schmach empfanden. „Dann geht doch“, rief CDU-Vize Volker Bouffier den Sozialdemokraten hinterher, deren Verhalten sei „widersprüchlich, unehrlich, nicht im deutschen Interesse und im Ergebnis wirr“. Gleich nach der Wahl hätten sie als erste verkündet, den siegreichen Spitzenkandidaten der EVP, Manfred Weber (CSU), nicht zu unterstützen. 

CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble suchte den Druck auf die SPD zu erhöhen und brachte eine unionsgeführte Minderheitsregierung ins Gespräch. „Wenn die SPD nach internen Debatten die Koalition vor dem Ende der Wahlperiode verlassen will, sollte die Union allein weiterregieren.“ Und die CSU, verärgert über das Scheitern ihres Parteifreundes Weber, sah die EU in schwerem Fahrwasser. Sollte von der Leyen nicht gewählt werden, „haben wir einen europäischen Totalschaden“, warnte Parteichef Markus Söder. „Wir müssen verhindern, daß es zu einer monatelangen europäischen Krise und Blockade der Institutionen kommt“. 

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer befürchtete eine „maximale und massive Belastung der Regierungsarbeit und der Koalition“. Daraufhin rief SPD-Fraktionsvize Achim Post die Union zur Mäßigung auf. „Ich kann nur jedem, der meint, die Causa von der Leyen zur Koalitionsfrage hochzufahren, empfehlen, einen Gang runterzuschalten“. Ob es wirklich zu einem „europäischen Totalschaden“ kommt, ist angesichts der unübersichtlichen Mehrheitsverhältnisse und der geringeren Fraktionsdisziplin im EP schwer einzuschätzen. Insgesamt gehören dem Parlament mehr als 180 unterschiedliche Parteien aus den noch 28 EU-Mitgliedsstaaten an.

Rücktrittsforderungen der Grünen verhallen

Mit den 11 Stimmen der AfD-Abgeordneten, die zu der 73köpfigen euroskeptischen Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) gehören, kann von der Leyen nicht rechnen, wie Parteichef Jörg Meuthen klarstellte. Jedenfalls müssen im ersten und einzigen Wahlgang mindestens 376 der insgesamt 751 Parlamentarier (davon 96 Deutsche) für die langjährige Bundesministerin stimmen. 

Forderungen der Grünen, von der Leyen solle sofort zurücktreten und dürfe nicht erst die unsichere Wahl abwarten, verhallten. „Die Ministerin kann das Verteidigungsministerium nicht als Plan B für den Fall in Geiselhaft nehmen, daß sie am Ende nicht gewählt wird“, hatte der Grünen-Verteidigungspolitiker Tobias Lindner betont.

Im Fall des Scheiterns in Brüssel erscheint ein Plan B in Berlin für die CDU-Frau zumindest ungewiß. SPD-Politiker verweisen auf von der Leyens umstrittene Amtsführung, derzeit belastet durch einen Untersuchungsausschuß wegen der Berateraffäre. Namen für die Nachfolge werden zwar vereinzelt genannt, etwa Gesundheitsminister Jens Spahn oder Verteidigungs-Staatssekretär Peter Tauber, doch ist das Wehrressort nicht allzu beliebt und gilt als Schleudersitz. Daß Kanzlerin Merkel offenbar an der Frauenquote festhalten will, macht eine Nachfolgeregelung noch komplizierter.