© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Willkür der Mehrheit
Paul Rosen

Die Geschäftsordnung (GO) des Bundestages hat „eine doppelte Schutzfunktion, nämlich die Minderheit vor Willkür der Mehrheit zu schützen sowie die Mehrheit vor Obstruktion der Minderheit zu bewahren“, heißt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Wäre die GO ein Patient, müßte man feststellen, daß es diesem durch Fremdeinwirkung nicht besonders gut geht. Noch vor der letzten Bundestagswahl wurde sie geändert, um einen Alterspräsidenten von der neuen AfD-Fraktion zu verhindern. Und obwohl in der Geschäftsordnung festgelegt ist, daß jeder Fraktion ein stellvertretender Präsident zusteht, hat kein Kandidat der AfD-Fraktion für den Vizepräsidentenposten bisher eine Mehrheit bekommen. 

Kritiker der parlamentarischen Mehrheitspraxis werden sich durch einen weiteren Vorfall bestätigt sehen. In der vorletzten Sitzung des Bundestages vor der Sommerpause, es war bereits weit nach ein Uhr nachts, waren keine 100 der 709 Abgeordneten im Plenum. Allerdings gilt das Parlament so lange als beschlußfähig, wie diese Beschlußfähigkeit nicht angezweifelt wird. Genau das tat Jürgen Braun, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion. Normalerweise wäre dann ein Hammelsprung fällig gewesen, bei dem die Abgeordneten erst den Plenarsaal verlassen und dann durch verschiedene Türen (mit Ja, Nein, Enthaltung gekennzeichnet) wieder hereinkommen. Wird dabei festgestellt, daß keine Mehrheit der Abgeordneten da ist, muß die Sitzung abgebrochen werden. 

Allerdings schreibt die Geschäftsordnung weiterhin vor, daß der Sitzungsvorstand, zu diesem Zeitpunkt waren dies Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sowie die beiden Schriftführer Benjamin Strasser (FDP) und Josef Oster (CDU), der Ansicht sein müssen, daß die Mehrheitsverhältnisse unklar sind. Hier muß dann eine wundersame Abgeordnetenvermehrung ins Spiel gekommen sein, denn Roth stellte fest: „Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, daß die Beschlußfähigkeit gegeben ist.“ Formal war dadurch weiter die Beschlußfähigkeit gegeben, auch wenn Braun das später anzweifelte und von einem „glatten Rechtsbruch“ sprach. Von den Vätern der Geschäftsordnung hat sich niemand vorstellen können, daß jemals ein Sitzungsvorstand Abgeordnete sehen würde, wo gar keine sind. Und sie hätten sich sicher auch nicht vorstellen können, daß der Kampf gegen Rechts einst vom Sitz des Präsidenten aus geführt werden würde. 

Präsident Wolfgang Schäuble und seine Stellvertreter bescheinigten Roth, korrekt gehandelt zu haben: „Das Präsidium des Bundestages ist einhellig der Auffassung, daß der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlußfähigkeit korrekt angewendet hat.“ Das Präsidium ist genau das Gremium, dem kein Vertreter der AfD-Fraktion angehört, obwohl die Geschäftsordnung dies ausdrücklich vorschreibt. Daß ein nicht korrekt zusammengesetztes Gremium einem anderen korrektes Verhalten bescheinigt, ist genau jene Willkür der Mehrheit, vor der die GO die Minderheit eigentlich schützen sollte.